Detailansicht

Der Amok-Komplex

oder die Schule des Tötens
ISBN/EAN: 9783608946277
Umbreit-Nr.: 1382437

Sprache: Deutsch
Umfang: 343 S.
Format in cm: 3.6 x 21 x 14
Einband: gebundenes Buch

Erschienen am 07.03.2012
Auflage: 1/2012
€ 20,00
(inklusive MwSt.)
Nachfragen
  • Zusatztext
    • Junge Amokschützen lernen voneinander: Die 'Schule des Tötens' erstreckt sich vom australischen Port Arthur bis zum norwegischen Utoya. Die drei deutschen Tatorte Erfurt, Emsdetten und Winnenden stellt Ines Geipel in den Kontext der weltweiten Geschichte des Amoklaufs und sie zeigt, wie diese neue Form der Gewalt aus der Mitte unserer befriedeten westlichen Gesellschaften herausbricht. Was treibt junge Amokläufer an? Warum sind Waffen noch immer so mühelos verfügbar? Wie schützt die Polizei, was klärt die Politik, wer ist für die Hinterbliebenen da? Unveröffentlichte Akten und Materialien, Gespräche mit Augenzeugen, Angehörigen und Experten geben tiefe Einblicke in den AmokKomplex.
  • Autorenportrait
    • Ines Geipel, geboren 1960, ist Schriftstellerin und Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst 'Ernst Busch'. Die ehemalige Weltklasse-Sprinterin floh 1989 nach ihrem Germanistik-Studium aus Jena nach Westdeutschland und studierte in Darmstadt Philosophie und Soziologie. 2000 war sie Nebenklägerin im Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Zwangsdopings. Ihr Buch 'Verlorene Spiele' (2001) hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Bundesregierung einen Entschädigungs-Fonds für DDR-Dopinggeschädigte einrichtete. 2005 gab Ines Geipel ihren Staffelweltrekord zurück, weil er unter unfreiwilliger Einbindung ins DDR-Zwangsdoping zustande gekommen war. Ines Geipel hat neben Doping auch vielfach zu anderen gesellschaftlichen Themen wie Amok, der Geschichte des Ostens und auch zu Nachwendethemen publiziert. 2020 erhielt sie den Lessingpreis für Kritik, 2021 den Marieluise-Fleißer-Preis.
  • Schlagzeile
    • Eine brennende Zeitdiagnose über die mentalen Ursprünge dieser Form von Jugendgewalt
  • Leseprobe
    • VORWORTNach dem Todeslauf von Robert Steinhäuser am 26. 4. 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium hieß es von seiten der Politik, die Tat sei 'ein Unheil, das vom Himmel gefallen ist'. Die Schockstarre schien so groß, dass es unmöglich war, den Fall umfassend aufzuklären. Nach Erfurt aber kamen Coburg, Emsdetten, Winnenden, Ludwigshafen, Lörrach. Mehr als 100 Menschen wurden in Deutschland allein im vergangenen Jahrzehnt durch hochkalibrige Schusswaffen getötet. Wie viel sind zehn Jahre im Lebenstakt einer Gesellschaft?Die Welt ist grenzenloser, schneller, atemloser geworden. Dem Amoklauf von Port Arthur folgten Columbine, Minnesota, Pennsylvania, Cleveland, Jokela, Utøya, Lüttich. Amok ist zum globalen Handlungsmodell geworden, die Schule des modernen Tötens zu einem Topsystem der Destruktion. Es giert nach maximaler Resonanz, bei der die dramatische Szene je nach medialem Referenzsystem umgebaut wird. Nach wie vor gehören Schulen als Tatorte dazu, aber mehr und mehr - wie Tucson und Oslo 2011 belegen - auch Senatorenbüros und Regierungsgebäude. Was sind zehn Jahre? Im Epizentrum der Tat ereignet sich unverändert das Absolutum, der Schrecken, nur Sekunden später unendliches Leid bei den Opfern und Angehörigen. Außerhalb des Epizentrums zeigt sich mehr und mehr Achselzucken. Ein Amoklauf? Schon wieder? Bloß gut, dass ich weit weg gewesen bin. Die gesellschaftliche Halbwertszeit der Trauer sinkt mit jedem Fall. Ist das die Lösung?Das Buch nähert sich dem Amok-Komplex über fünf Fälle. Fünf biographische Vignetten, in denen jeweils ein anderer Fokus gewählt wird: In Port Arthur 1996 rückt das Transgenerationelle in den Blick, in Erfurt 2002 die Politik, in Emsdetten 2006 das Täterprofil, in Winnenden 2009 die Angehörigen und das deutsche Waffenprinzip, in Utøya 2011 die versuchte Virtualisierung und Ideologisierung von seiten des Täters. Parallelen und Muster sind das eine, Konkretes und Überkomplexes dieser menschlichen Katastrophen das andere. Es geht ums Beschreibbare, um Selbst- und Fremdbilder, um seelische Verkrümmungen, Indifferentes, Entglittenes, Psychotisches, Verstörtes. Wo sonst kreuzen sich Wirkliches und Unmögliches so dicht wie im Töten?Dieser Zugang legitimiert weder Gewalttätigkeit noch Brutalität. Er sagt nur, dass es nichts bringt, Amokläufe zu anonymisierten Menetekeln zu machen. Die Täter sind keine Monster, Dämonen oder Teufels-Killer. Sie haben mit 17 ein Auto, eine Doppeletage im Haus der Eltern oder ein dickes Konto. Amokläufer töten aus unserer Mitte heraus. Sie zu psychiatrisieren hieße, sie aus der Gesellschaft zu exkulpieren. Hilft das weiter? Der kategorische Nichtumgang der Politik mit dem offenkundigen Grauen hat die Ohnmacht nur potenziert. Was sind zehn Jahre? Das Einrichten in Politfloskeln, einer Angstkultur und gesellschaftlicher Abwehr, aber auch jede Menge Mordswut.Verleugnete Instanzen arbeiten effizient. Seit Columbine beziehen sich die Täter auf ihre dunklen Väter aus dem Internet. Das Gefangensein in der virtuellen Welt ist eine Parallelerfahrung zur Demütigung im Realen geworden. Dabei liegt der Unterschied auf der Hand: Amokschützen lernen schnell, und sie lernen voneinander. Sich im Virtuellen aufzuladen und der problemlose Zugang zu Waffen ermöglichen das Systemische, aber auch Systematische ihrer Inszenierungen: Anders Breivik und sein Kompendium '2083' oder der parzellierte Amok der Jenaer Todes-Troika, die im November 2011 ganz Deutschland in Bann hielt, sind ein Beleg dafür, dass sich die Täter in ihrem VerwüstungsAkt nicht mehr entladen. Sie sind in der Lage, ihr NegationsProgramm im Inneren zu halten und über den Anschlag hinaus zu verlängern. Wenn alles zum schrankenlosen Spiel erklärt ist, warum nicht auch das Töten? Auf diese Weise sind Amokläufe zu kaltblütigen Entrees für den vermeintlichen Missions-Akt nach der Tat geworden. Ein herberParadigmenwechsel.Der Amok-Komplex im Zeitalter der Neuen Medien hat die Gesellschaft zum Komplizen gemacht. Das Buch handelt von seelischen Inseln, Vulkanen, Abrissen, Vakuen und einem unerhörten Schmerz. Ihn wahrz PROLOG PORT ARTHUR, 28. APRIL 1996 DAS ARSENAL IN DER CLARE STREET, NR. 30 SANDÖSEN UND EXKULPIERTES. Von Frankfurt nach Hobart, der Hauptstadt von Tasmanien, über Singapur, Sydney, Melbourne. Ein Flug ans andere Ende der Welt. Die Maschine kämpft sich durch dichte Wolkenmassive, ineinander geschoben, übereinander gestapelt, aus sich heraus quellend. Mit einem Mal reißen sie auf. In den Blick über die linke Tragfläche schiebt sich nach und nach die Anwesenheit der Welt: das Meer, jede Menge Spinnaker und Fischerboote, das Gesetz der Vögel, die scharfe Landkante, ab da viel dunkles Grün. Das Flugzeug steuert direkt auf den einzigen hellen Fleck in ihm zu. Es ist Hobart. Der Kapitän schaltet sich aus dem Cockpit ein, plaudert eine Weile übers Inselwetter, teilt mit, dass der Sinkug begonnen hat, verabschiedet sich. Das Mikrofon knackt, die Fernseher werden abgeschaltet, die Sitze senkrecht gestellt, der Druck auf die Ohren nimmt zu. Als befände man sich in einem Vakuum. Wozu diese weite Reise?Avis, Sixt, Hertz, Europcar. Die Mehrheit der Passagiere trifft sich nach der Landung an den Schaltern der Autovermietungen wieder. Der Andrang ist groß. Alle haben es eilig. Niemand achtet auf den schwarzen Rucksack, der auf der Bank vor dem SixtStand abgestellt wurde. Binnen Sekunden ist die Halle voll mit Polizei. Jeder hat seinen Ausweis zu zeigen. Die Uniformierten wirken streng. Zwei junge Frauen gehen nach ihrer Kontrolle in Deckung, die Augen ängstlich auf das schwarze Teil fixiert. Jetzt sehen es alle. Es ist, als würde die ganze Halle einen Moment lang den Atem anhalten. Ein Polizist kommt mit einem Bombendetektor. Er hantiert professionell, stellt das Gerät einen reichlichen Meter vor dem Rucksack auf. Vier seiner Kollegen riegeln ab, drängen die Leute zu den beiden Ausgängen. Der Mann am Detektor schaut so konzentriert durchs Visier wie die Umstehenden auf ihn. Erneut das VakuumGefühl. Nach einer Weile klappt er das Gerät ein, nickt die Runde ab. Die Angelegenheit ist beendet. Die Polizisten ziehen ab. Am anderen Ende der Halle ist noch ein helles Lachen zu hören, das die Angst verabschiedet. Die Autoausleihe läuft weiter wie immer. An den Ausgängen hängen zwei gelbliche, meterlange Bänder mit grellroter Schrift: 'Welcome to Tasmania!'Vom Flughafen aus Richtung Süden. Unaufhörlicher Wind und ein Licht, das ständig auf Anfang steht: klar, grell und durchweg in dem seltsam satten Grün, das schon vom Flugzeug aus zu sehen war. Die Fahrt durch eine Landschaft, die man mit dem Kosewort Urvertrauen ansprechen möchte: entschieden, archaisch, zart, zerzaust, wild, und die doch viel von Zivilisation erzählt. Alte Brücken, stämmige Siedlungen im Kolonialstil, abseits liegende Farmen, von denen jede zweite zum Verkauf steht. Die Straße führt entlang der Uferzonen, durch rissige Landengen, an Meeresklippen vorbei und wird zu einem großen Bericht über Schönheit und Grenzen. Nach anderthalb Stunden Fahrt ist man am Eaglehawk Neck, dem 'Eingang zur Unterwelt', wie eine TourismusTafel preisgibt. Dabei ist dieser Zugang ins Dunkle etwas sehr Lichtes, eine SandÖse, eine Art Landbrücke, an der schmalsten Stelle nur 30 Meter breit. Ein Durchgang. Von wo nach wo?ALTE UND NEUE WELTEN. 160 000 Häftlinge hatte man allein zwischen 1788 und 1868, zumeist aus England, Irland, Schottland und Wales, nach Australien in die sogenannte 'Verbrecherkolonie' der Alten Welt geschickt. Vor allem die Briten suchten einen Ort, um sich ihrer wie auch immer auf Abwege geratenen Landeskinder zu entledigen und setzten diese zumeist lebenslänglich in der Ferne aus. Doch das notwendige Arrangement im Deportationskosmos Australien zwischen Militär, Siedlern, Gefangenen, Missionaren und ehemaligen Sträflingen führte eher zur gesellschaftlichen Mo...