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Verwaltungsdesaster

Von der Loveparade bis zu den NSU-Ermittlungen
ISBN/EAN: 9783593507873
Umbreit-Nr.: 2335984

Sprache: Deutsch
Umfang: 320 S.
Format in cm: 2 x 21.4 x 14.2
Einband: Paperback

Erschienen am 08.12.2017
Auflage: 1/2017
€ 35,00
(inklusive MwSt.)
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  • Kurztext
    • Professionell scheitern: Wenn Verwaltung zum Desaster wird Bürgerinnen und Bürger demokratischer Rechtsstaaten vertrauen darauf, dass der Staat Gefahren für Leib und Leben rechtzeitig erkennt und abwendet. Versagen Staat und Verwaltung vor dieser Aufgabe, kommt es auf rigorose Ursachenanalyse und die Abschätzung allgemeiner Risikofaktoren an. Dem widmet sich dieses Buch am Beispiel von vier spektakulären Fällen. Es geht um den Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall 2006, die Loveparade- Katastrophe in Duisburg 2010, das Versagen der Hamburger Jugendbehörden bei der tödlichen Misshandlung eines Kindes 2013 und das Unvermögen der Polizei bei der Fahndung nach den NSU-Mördern in den Jahren 2000 bis 2007. Keine dieser Tragödien, so die Autoren, war unabwendbar, alle beruhten auf Fehleinschätzungen erkennbarer Risiken, die aufgrund von Kosteneinsparungen, Konfliktvermeidung, geringer Widerstandsfähigkeit möglicher Betroffener oder der Politisierung von Fachfragen vernachlässigt wurden. Das Buch verbindet diese Fallanalysen mit einem Plädoyer für eine neue Verantwortungsethik in der Verwaltung.
  • Autorenportrait
    • Wolfgang Seibel (Abb.) ist Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz und Adjunct Professor an der Hertie School of Governance, Berlin. Kevin Klamann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Konstanz. Hannah Treis studiert an der Hertie School of Governance, Berlin.
  • Leseprobe
    • Vorwort Das vorliegende Buch hat zwei Entstehungsquellen. Die eine ist der Lehrbetrieb an der Universität Konstanz. Sie hat uns Autoren zusammengebracht - ein gelungenes Beispiel für Lehre aus Forschung und Forschung, die ohne die akademische Lehre nicht stattfinden würde. Drei der vier im vorliegenden Band vorgestellten Fallstudien gehen auf studentische Seminar- und Abschlussarbeiten zurück. Kevin Klamann, Hannah Treis und Timo Wenzel haben bei Wolfgang Seibel das Handwerk kausalanalytischer Fallstudien gelernt und auf Erscheinungen drastischen Organisationsversagens in der öffentlichen Verwaltung angewendet. Das bildete die Grundlage der in diesem Band vorgelegten Untersuchungen zu den Ursachen des Einsturzes der Eislaufhalle in Bad Reichenhall 2006 (Kevin Klamann), der Vorgeschichte der Loveparade-Katastrophe von Duisburg 2010 (Timo Wenzel), des Behördenversagens im "Fall Yagmur", dem Tod eines dreijährigen Mädchens 2013, das durch die Hamburger Jugendbehörden vor den Misshandlungen durch die eigenen Eltern hätte geschützt werden müssen (Hannah Treis). Daraus entstand die Idee, diese Studien in eine Sammelmonographie zu überführen unter der Federführung von Wolfgang Seibel, der ein weiteres Mal die Quellen ausgewertet, weitere Quellen hinzugezogen und das Gesamtmanuskript verfasst hat. Er hat auch die Fallstudie über den Fehlschlag der polizeilichen Ermittlungen in Zusammenhang mit den NSU-Morden beigesteuert, die überarbeitete Fassung eines früheren Zeitschriftenbeitrags. Die zweite Quelle dieser Fallstudiensammlung sind die organisationstheoretischen und verwaltungswissenschaftlichen Arbeiten von Wolfgang Seibel auf anderen Gebieten, zuletzt zusammengefasst in "Verwaltung verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung" (Berlin 2016). Sie bilden die Grundlage der methodischen und theoretischen Anlage des vorliegenden Bandes. Das gilt insbesondere für die Identifizierung der jeweils maßgeblichen kausalen Mechanismen, deren Verständnis von Bedeutung ist für verallgemeinernde Schlussfolgerungen aus den untersuchten Fällen und damit für wünschenswerte Lerneffekte und Präventionsstrategien. Obwohl das Buch einen rein akademischen Entstehungskontext hat, wird sein Gegenstand und werden die Fallstudien auf das Interesse eines breiteren Publikums stoßen. Das liegt an den hier behandelten Fällen drastischen Behördenversagens, die überwiegend noch keine systematische Aufarbeitung erfahren haben, erst recht keine durch unabhängige Experten jenseits parlamentarischer oder strafrechtlicher Untersuchungen. Die Fallverläufe haben wir so gewissenhaft wie möglich rekonstruiert und dokumentiert. Soweit Handeln und Unterlassen individuell zurechenbar war, haben wir das kenntlich gemacht, überwiegend in anonymisierter Form. Lediglich dort, wo dies aus den Quellenangaben ohnehin hervorgeht oder wo es sich um Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens handelte oder handelt, werden Namen genannt. Eingedenk des Leidens von Opfern und Hinterbliebenen halten wir dieses Vorgehen für vertretbar. Unsere Untersuchungen wurden gefördert durch Mittel des Ausschusses für Forschungsfragen der Universität Konstanz und des Exzellenzclusters Exc16 der Deutschen Forschungsgemeinschaft, an dessen Kulturwissenschaftlichem Kolleg in der Kreuzlinger Seeburg das Buch auch verfasst wurde. Allen Beteiligten dort, vor allem dem langjährigen Sekretär des Kollegs, Fred Girod, gilt unser herzlichster Dank. Die Gesamtherstellung des Rohmanuskripts lag in den bewährten Händen von Angelika Dörr. Simon Fechti und Fedo Hagge-Kubat waren an der technischen Überarbeitung des Manuskripts und der Herstellung der Abbildungen und Tabellen beteiligt. Annette Flowe hat ihrerseits Teile des Manuskripts technisch überarbeitet und die erste Fassung des Literaturverzeichnisses erstellt. Ann-Christin Bechtoldt hat die Herstellung der Druckfassung des Manuskripts betreut und insbesondere die Verzeichnisse von Literatur, Quellen, Abbildungen und Abkürzungen erstellt. Verbliebene Fehler gehen gleichwohl allein zu unseren Lasten. Konstanz, im September 2017Wolfgang Seibel Kevin Klamann Hannah Treis Einleitung: Behördenversagen mit Todesfolge Wolfgang Seibel Im vorliegenden Band werden vier Fälle von Behördenversagen mit tragischem Ausgang untersucht. Es geht um die Loveparade-Katastrophe vom 24. Juli 2010, die 21 Todesopfer forderte, um den Einsturz der Eislaufhalle in Bad Reichenhall am 2. Januar 2006 mit fünfzehn Todesopfern, um das Versagen der Polizeibehörden bei der Fahndung nach den NSU-Mördern seit dem Jahr 2000, denen zehn Menschen zum Opfer fielen, und um den Tod der kleinen Yagmur, die im Alter von drei Jahren an den Misshandlungen starb, die ihr ihre Mutter zugefügt hatte und die hätten verhindert werden können, wenn die zuständige Hamburger Jugendbehörde rechtzeitig eingegriffen hätte. In all diesen Fällen haben staatliche oder kommunale Behörden ihre Pflicht zum Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit von Menschen verletzt. Dabei ist es unerheblich, ob das jeweilige Behördenversagen eine notwendige oder hinreichende Bedingung für das Eintreten dieser Folgen oder vielleicht nur ein begünstigender Faktor war. Schon die Steigerung von Risiken für Leib und Leben stellt eine schwerwiegende Fehlleistung der öffentlichen Verwaltung dar, unabhängig davon, ob die physische Integrität von Menschen tatsächlich zu Schaden kommt. Die Ursachen solcher Desaster müssen aufgeklärt werden, schon von Amts wegen. Doch wird in Deutschland Behördenversagen mit Todesfolge nicht regelmäßig und nicht nach einheitlichen Verfahrensregeln oder institutionellen Üblichkeiten untersucht. Auch die hier behandelten Fälle spiegeln dies wider. Dem Behördenversagen im Zusammenhang mit dem Abtauchen des sogenannten NSU-Trios und der fehlgeschlagenen Fahndung nach dem Beginn der diesem zuzurechnenden Mordserie haben sich bis 2017 mehr als ein halbes Dutzend parlamentarische Untersuchungsausschüsse auf Bundes- und Länderebene gewidmet. Die Ursachen des Einsturzes der Eislaufhalle in Bad Reichenhall am 2. Januar 2006 sind immerhin durch drei Strafgerichtskammern aufgeklärt worden. Der "Fall Yagmur" war Gegenstand eines Untersuchungsausschusses der Hamburger Bürgerschaft, der seinen Untersuchungsbericht 2015 vorgelegt hat. Das Behördenversagen im Vorfeld der Loveparade-Katastrophe von Duisburg aber wurde bis heute keiner parlamentarischen oder amtlichen Untersuchung unterzogen. Allerdings hat das Oberlandesgericht Düsseldorf den Beschluss des Landgerichts Duisburgs, dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Eröffnung des strafrechtlichen Hauptverfahrens gegen zehn an der Planung und Durchführung der Loveparade Beteiligte nicht stattzugeben, am 18. April 2017 aufgehoben. Hier kann also, ähnlich wie im Fall Bad Reichenhall, mit einer Aufarbeitung wenigstens der strafrechtlich relevanten Tatsachen gerechnet werden. Diese Heterogenität von Umfang und institutionellem Rahmen der Ursachenanalysen ist bereits für sich genommen ein signifikantes und erklärungsbedürftiges Phänomen. Mitunter liegen dem Ausbleiben systematischer Aufklärungen ähnliche Ursachen zugrunde wie dem aufklärungsbedürftigen Desaster selbst. Zum Beispiel eine Politisierung von Fachfragen, sei es bei Verwaltungsentscheidungen oder der Aufklärungs- und Ermittlungsaufgaben von Parlamenten, Verwaltungen und ihren Sachverständigen. Insofern berührt die Analyse der Ursachen von besonders gravierendem Behördenversagen auch grundlegende Fragen institutioneller Effektivität und Integrität demokratischer Rechtsstaaten und, damit in Verbindung, öffentlicher Ethik. Denn auch die lückenlose Aufklärung der Ursachen staatlicher Verletzung elementarer Grundrechte, hier des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, gehört zu den staatlichen Kernaufgaben. Eine solche Ursachenforschung ist ein normatives Gebot demokratischer Praxis in Politik und Verwaltung, sie stellt aber auch besondere methodische Anforderungen an die politik- und verwaltungswissenschaftlich...