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Sexualpolitik

Verflechtungen von Race und Gender, Politik der Geschlechterverhältnisse 56
ISBN/EAN: 9783593507217
Umbreit-Nr.: 416579

Sprache: Deutsch
Umfang: 365 S.
Format in cm: 2.2 x 21.4 x 14.2
Einband: Paperback

Erschienen am 08.06.2017
Auflage: 1/2017
€ 41,00
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  • Kurztext
    • Sexualpolitik ist eine Machttechnik. Sie reguliert Verhaltensweisen oder schließt Gruppen aus - das Feld Sexualität ist dabei besonders skandalisierbar. Angeblich problematische Sexualitäten werden nicht nur mit Geschlecht, sondern auch mit Ethnizität und Religion verflochten. Gabriele Dietze diskutiert diesen Zusammenhang in historischer, theoretischer und gegenwartsanalytischer Perspektive von feministischen Orientalismen der Ersten Frauenbewegung bis hin zu den Ereignissen von Köln in der Silvesternacht 2015.
  • Autorenportrait
    • Gabriele Dietze, PD Dr., ist Fellow der VolkswagenStiftung im Projekt "Sexueller Exzeptionalismus" an der HU Berlin und Gastdozentin an der Universität Basel.
  • Leseprobe
    • Einleitung: Sexualpolitik - Archäologie einer Problematisierungsweise Vorspiel Sexismuskritik ist wieder en vogue. Ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat hätte die Wahl verlieren können, weil er mit sexuellen Übergriffen auf Frauen geprahlt hat und weil er sexistischen Gedankenaustausch unter Männern für normal hält. Es ist anders gekommen. Eine machtvolle Gegen­rede, warum Sexismus nicht normal ist, wurde von Michelle Obama in ­einer Wahlkampfveranstaltung in New Hampshire gehalten. Denjenigen, die sagen, dass Frauen sich nicht so aufregen sollen, antwortet sie folgendermaßen: "Too many are treating this as just another day's headline, as if our outrage is overblown or unwarranted, as if this is normal, just politics as usual. But [] to be clear: This is not normal. This is not politics as usual. This is disgraceful. It is intolerable. [] no woman deserves to be treated this way. None of us deserves this kind of abuse" (Obama 2016). Michelle Obama ist nicht nur eine Frau, sondern die erste schwarze First Lady der amerikanischen Geschichte. Das ist ihr auch in dem Moment bewusst, als sie die inzwischen weltberühmte antisexistische Rede hält. Alle US-Amerikaner_innen wussten, dass sie über race sprach, als sie sagte: "[W]e can show our children that here in America, we reject hatred and fear and in difficult times, we don't discard our highest ideals. No, we rise up to meet them. We rise up to perfect our union" (ebd.). Damit spielte sie auch auf Barack ­Obamas berühmte speech on race "For a more perfect Union" an (Obama 2008). ­Michelle Obama verkörperte auf diese Weise die Intersektionalität von race und Gender. Sie nutzte diese, um das Publikum auf race- und Gender-Solidarität zu verpflichten. Und sie tat das mittels der Kritik an der Sexualpolitik des Kandidaten. Eines der ersten Manifeste der Neuen Frauenbewegung hieß Sexual ­Politics (1970). Die Autorin, Kate Millett, hatte damals die Erkenntnis, dass es Zeit für einen second wave feminism sei, mit einem Hinweis auf die amerikanischen race-Verhältnisse begründet. Sich aus der sexuellen Unterdrückung durch Männer zu befreien, sei politisch, weil man in der Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner_innen gelernt habe, dass Weißen kein Geburtsrecht zur Beherrschung schwarzer Menschen zustehe, sondern dass deren Unterdrückung eine politische sei. Die Frauen seien die letzte Gruppe, die quasi durch ein Geburtsprivileg, nämlich das männliche, beherrscht würden. Diesen Tatbestand gelte es politisch zu bekämpfen (Millett 2000 [1970]: 24). Eine race-sensible Kritik von Sexualpolitik kann also ein machtvoller Hebel sein, in Herrschaftsverhältnisse zu intervenieren. Betrachtet man gegenwärtig die deutschen Kontroversen um Sexismus, die sich um die Ereignisse in der Silvesternacht 2015 von Köln und die sexis­tischen Verfehlungen von CDU-Politikern in Berlin 2016 entzündeten (Lau 2016), ist eine Verschärfung und Präzisierung der Kritik von Sexualpolitik ebenfalls geboten. Bei uns wird weniger selbstverständlich als in den USA von einer Verschränkung von Sexismus und Rassismus ausgegangen, obwohl sexualpolitische Diskriminierung von Muslimen und der Komplex Köln allen Anlass dazu böten. Die hier unter dem Stichwort Sexualpolitik versammelten Aufsätze verstehe ich insofern als einen Beitrag zu diesem Unternehmen. Ich möchte die Einleitung dieses Buches zum Anlass nehmen, den Bedeutungsraum national und inhaltlich unterschiedlichster Vorstellungen von Sexual­politik auszuloten, mein Verständnis davon zu verdeutlichen, um an die politische Potenz von Kritik an Sexualpolitiken zu erinnern. Im Titel dieser Einleitung habe ich diese Suchbewegung Archäologie genannt. Die Metapher soll ein Wissen bezeichnen, das unter der Oberfläche liegt und ausgegraben werden muss, bevor es wieder politisch gemacht werden kann. Meine Ausgrabung wird folgenden Weg nehmen: Zuerst wird dem Terminus Sexualpolitik in einer Begriffsgeschichte nachgegangen, um die Fluchtlinien sowohl für ein allgemeines Verständnis als auch für meinen ­eigenen Gebrauch zu erarbeiten. Dieses werde ich exemplarisch an Deutschen Zuständen rund um Migration überprüfen. Dabei werde ich mir klischierte Vorstellungen von Muslimen in Deutschland ansehen, die ich Abwehrfigurationen nenne, und die sexuell (sexualpolitisch) aufgeladen werden. Dabei konzentriere ich mich auf Verkopplungen von antimuslimischem Rassismus und westlichen Emanzipationsvorstellungen. Im Anschluss daran werden unterschiedliche queer-feministische und gendertheoretische Interventionen in dieses Feld diskutiert. Schließlich wird die These entwickelt, dass Sexualpolitik eine Problematisierungsweise ist, mit der neoliberale Abendländischkeit und Stigmatisierung von (musli­mischer) Religion zu einem Überlegenheitsmuster verknüpft werden, das Freiheit ­sexualisiert und als (sexuell) unfrei angerufene Gruppen rassisiert. Sexualpolitik Begriffsgeschichte Unstrittig ist, dass Sexualpolitik und Geschlecht nicht voneinander zu trennen sind. Weniger selbstverständlich wird, wie bereits erwähnt, eine Verbindung von race und Sexualpolitik angenommen, obwohl race in fast jede sexualpolitisch interpretierbare Situation eine Rolle spielt. Das war nicht nur im Kolonialismus der Fall, wo angeblich primitive Sexualität von weißen Tugendregimen beherrscht wurde (Stoler 2002; Walgenbach 2005), sondern race reguliert auch Maßnahmen der Vereinten Nationen gegen die Überbevölkerung des Globalen Südens (Wichterich 1985). Weiterhin sind race, Ethnizität und immer mehr Religion nicht nur dann im Spiel, wenn es Andere betrifft. Auch Weißsein, Abendländischkeit und Säkularität sind Gruppenmitgliedschaften. Weiße Menschen sind sowohl Akteur_innen als auch Objekte von Sexualpolitik. Sexualpolitik hat nicht nur sachlich und historisch unterschiedliche Gegenstände, sondern auch unterschiedliche lokale Traditionen. Das angloamerikanische Verständnis ist auf sexualisierende Diskriminierung ausgerichtet, ein französisch/europäischer, hauptsächlich von Michel Foucault geprägter, Strang zielt auf staatliche Politiken, die die Regulierung von Bevölkerung durch Sexualität zum Ziel haben. Wenn aus einer deutschen Perspektive über Sexualpolitik gesprochen wird, muss noch ein dritter Strang berücksichtigt werden: eine frühe Verwendung des Begriffs in der kommunistischen Sexpol-Bewegung der Zwischenkriegszeit. Sie war im Reichsverband für proletarische Sexualpolitik organisiert (Rackelmann 1993) und hat bis in die ­Sexuelle Revolution der Studentenbewegung der Sechziger ausgestrahlt (Gente 1970). Die kommunistische Sexpol-Bewegung hatte eine sozialhygienische und eine sozialrevolutionäre Seite. Es ging einerseits darum, über Aufklärung die Arbeiterschaft von der Geisel des Kinderreichtums und der venerischen Krankheiten zu befreien. Andererseits wollte man das Proletariat aus der bürgerlichen Sexualunterdrückung erlösen. Der Dissident der Psychoanalyse und Sexrebell Wilhelm Reich hatte für seine Schriften den Verlag für Sexualpolitik gegründet. Der Begriff Sexualpolitik stand damit im Kontext einer ersehnten proletarischen Revolution und hat im Deutschen ­sowohl ­einen vertrauten Klang als auch einen utopischen Zauber. Hier bedeutet Sexualpolitik: durch (befreite) Sexualität (revolutionäre) Politik machen. Sexual Politics Wie bereits erwähnt, machte Kate Millet den Begriff sexual politics populär. Sie motiviert seine Einführung folgendermaßen: "In introducing the term sexual politics one must first answer the inevitable question can the rela­tion between the sexes be viewed in a political light at all? The answer depends on how one defines politics [] The term politics shall refer to power-structured relationships, arrangements where one group of persons is controlled by the other" (Millett 2000 [1970]). In der deutschen Übersetzung 1971 wurde der Titel hin zu Sexus und Herrschaft verändert, der Untertitel verdeutlicht, worum es geht: "Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft". Jene werde - so demonstriert ...