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Familiengeschichten

Biografie und familiärer Kontext seit dem 18. Jahrhundert
ISBN/EAN: 9783593387734
Umbreit-Nr.: 1033719

Sprache: Deutsch
Umfang: 323 S.
Format in cm:
Einband: Paperback

Erschienen am 15.09.2008
Auflage: 1/2008
€ 44,00
(inklusive MwSt.)
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  • Zusatztext
    • Die Biografie eines Einzelnen ist immer zugleich eine Familiengeschichte. Die Familienverhältnisse werden als prägende Faktoren in die (auto-)biografischen Darstellungen einbezogen. Diesem Zusammenhang zwischen Familie und Biografie gehen hier Autorinnen und Autoren aus Literaturwissenschaft, Historischer Pädagogik und Geschichtswissenschaft nach.
  • Autorenportrait
    • Nina von Zimmermann, Dr. phil., ist wiss. Assistentin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern. PD Dr. Christian von Zimmermann ist dort Dozent für Neuere Deutsche Literatur am Institut für Germanistik und Inhaber einer SNF-Förderungsprofessur.
  • Leseprobe
    • Familiengeschichten - Familienstrukturen in biographischen Texten: zur Einführung Christian von Zimmermann / Nina von Zimmermann I. Individuum und Familie Wenn die Biographik als Ausweis für ein Interesse an Individuen und ihrem Verhältnis zu Geschichte und Gesellschaft betrachtet wird, Biographien als Individuationsgeschichten gelesen und geschrieben werden, so kann man rasch zu einem negativen Begriff der Familie gelangen. Der wichtigste Schritt für den Einzelnen im Sinn des Individuationsprozesses wäre demnach der Schritt der Ablösung von der familiären Bevormundung im Elternhaus, oder er wäre - gerade in feministisch angelegten Frauenbiographien - der Schritt aus einer in der Familie definierten Familienrolle und einer Beschränkung auf den Privatraum Familie hinaus in eine Welt, die öffentliche Wirksamkeit und Anerkennung verspricht. Autonomisierung und Befreiung erscheinen als die grundlegenden Prozesse, welche das Verhältnis von Individuum und Familie in der Biographie kennzeichnen, gleichgültig ob die Familie dabei als gewichtiger Faktor der Sozialisation begriffen oder nur als Individuationshindernis wahrgenommen wird. Zahlreiche Biographien - vor allem solche, die sich in einen liberalen Diskurs einfügen - bieten emphatische Bilder der Befreiung des Individuums von der Familie oder der Fesselung der Einzelnen an die Rolle des Familienmitgliedes: [Adolf Saager über Henry Ford, 1924:] Er hatte nur noch einen Wunsch: ins Freie. Die Schule war jetzt beendet. Henry Ford folgte seinem Drang ins Freie, wie er seiner Neigung zur Mechanik gefolgt war. Eines frühen Morgens verließ er das elterliche Haus, ohne einem Menschen von seinem Vorhaben zu sagen. [Ellen Key über Rahel Varnhagen, 1907:] Und Rahel scheint darauf gefaßt zu sein, im Familienkreise kein Verständnis zu finden. Was sie verlangt, ist, daß man sie in Frieden läßt. Aber wie gewöhnlich sehen Mutter und Geschwister, auch nachdem Rahel die berühmte Rahel geworden ist, in ihr nur die Tochter und Schwester [.]. In der Zwischenzeit fühlt sie sich übersehen, getadelt, überstimmt, mißverstanden. Die Verwandten ermahnen oder missbilligen Rahel mit jener Unzartheit, die Familienmitglieder noch heute als das unbestreitbare Familienprivilegium betrachten. Das moderne Erziehungsziel, so hielt Gertrud Bäumer Anfang des 20. Jahrhunderts in der Zeitschrift Die Frau in kritischer Auseinandersetzung mit Ellen Key nur teilweise zustimmend fest, laute in einem Zeitalter des Egoismus nurmehr: "Die Erziehung befreit das Kind von dem Erzieher []". Die Familie erschiene demgemäß als eine negative Größe, welcher allenfalls die Rolle der Wegbereiterin zuwachsen würde. Die Liebe ist das Thema, anhand dessen in literarischen Texten dieser Konflikt zwischen familialen und sozialen Ansprüchen einerseits und individuellen Entfaltungssehnsüchten andererseits immer wieder neu ausgehandelt wird. Es ist kultur- und mentalitätsgeschichtlich bedeutsam, wie Familiendiskurse des 19. Jahrhunderts das Werthersche Liebesleid im Modell der Liebesheirat zu überwinden versuchen, indem sie die Möglichkeit einer Integration von Liebeserfüllung in die Verhältnisse von Familie und Haushaltung erschreiben - wie etwa Jeremias Gotthelf in seinem Anti-Werther-Roman Geld und Geist (1843/44). Einer Literatur, die sich eher mit den Krisen zwischen Individuum und Gesellschaft als mit der Frage beschäftigt, wie Gemeinschaften funktionieren können, waren die Konflikte in Ehe und Familie allerdings zumeist interessanter. Bei Theodor Fontane, bei Henrik Ibsen und August Strindberg werden diese Konflikte auf dem Schauplatz der Ehe und Familie bravourös narrativ und dramatisch in Szene gesetzt, und die Eheromane und -erzählungen der siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts - wie etwa Doris Lessings The Summer Before the Dark (1973), Hans Joachim Fröhlichs Im Garten der Gefühle (1975), Martin Walsers Ein fliehendes Pferd (1978) und so weiter und so fort - setzen diese literarische Krisengeschichte fort. Vielfach werden in biographischen und autobiographischen Texten, in der Erzählliteratur Konflikte thematisiert, welche sich aus der Konfrontation des öffentlichen Selbstverwirklichungsinteresses der Einzelnen mit den Anforderungen einer Familie ergeben. Valerie Sanders betont im Artikel "Family Relations and Life Writing" für die Encyclopedia of Life-Writing die Familie als Strukturelement der Biographie; sie diene der Konstruktion der Einzelpersönlichkeit im Spannungsfeld von "conflict and self-development". Der Sohn, der die künstlerische Neigung vor die Übernahme etwa eines Familiengeschäftes stellt, und der forschende oder künstlerische Mensch, der die Verwirklichung seiner Lebensträume gegen die eigene bürgerliche Lebensführung durchsetzen muss, sind genauso literarische Topoi dieses Selbstverwirklichungswillens wie das entsprechende weibliche Pendant einer die Grenzen der Familie überwindenden Emanzipationsgeschichte. Und wenngleich diese Individuationsmuster und -hindernisse hochgradig stilisierte Konstrukte der Literatur sind, die eigene Traditionen entfalten, so bedeutet dies eben nicht, dass ihnen eine lebensweltliche Basis fehlte oder eben ein soziales Bedürfnis nach solchen Individuationsmustern. Gerade im 19. und 20. Jahrhundert liegt diesen Mustern auch das liberalethische Leitbild eines sich in Pflicht der Arbeit hingebenden Individuums zugrunde, dessen Glückssehnsüchte freilich auch in der volkspädagogischen Literatur des 19. Jahrhunderts bereits auf Pflichterfüllung und Dienst am ökonomischen, kulturellen oder nationalen Fortschritt reduziert werden.