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Mein erster Mörder

Lebensgeschichten
ISBN/EAN: 9783552060319
Umbreit-Nr.: 1504321

Sprache: Deutsch
Umfang: 256 S.
Format in cm: 2.3 x 21 x 13.3
Einband: gebundenes Buch

Erschienen am 04.02.2006
€ 19,90
(inklusive MwSt.)
Nicht lieferbar
  • Zusatztext
    • In der Titelgeschichte "Mein erster Mörder" wird ein bis dahin unbescholtener Mann wegen Totschlags zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Was haben sein Vater und dessen Rolle im Zweiten Weltkrieg mit dem Sohn und seiner Tat zu tun? In insgesamt drei Geschichten zeichnet Vladimir Vertlib das Leben von Menschen, die zwischen politischer Willkür und schicksalhaften Gegebenheiten ihre Würde oder auch nur ihr nacktes Leben zu bewahren versuchen, nach: ganz ruhig und unaufgeregt, stets auf Augenhöhe mit den Menschen, ohne sich über sie zu erheben - und gerade deshalb umso spannender.
  • Autorenportrait
    • Homepage von Vladimir Vertlib
  • Leseprobe
    • Der Mörder hat mich zum Abendessen eingeladen. Er und seine Frau kochen gemeinsam. Sie macht die Vorspeise, er das Hauptgericht. Auf sein Nachfragen hin, gebe ich zu, dass er der erste Mörder ist, den ich in meinem Leben kennen lerne. Er lacht. Für ihn hingegen sei ich längst nicht der erste Neugierige, meint er. Allerdings habe bis jetzt niemand etwas über ihn schreiben wollen. Nach dem Essen trinken wir Tee aus Gläsern mit vergoldeten Untersätzen und sprechen über den Mord, den der Mann vor zwanzig Jahren begangen hat. Der Mord war in Wirklichkeit ein Totschlag. Leopold Ableitinger, damals zweiundvierzig Jahre alt, Angestellter in der Verrechnungsabteilung eines großen Gastronomiebetriebs in Salzburg, verheiratet, Vater zweier Kinder, hatte sich an einem sonnigen Oktobernachmittag zwei Stunden frei genommen, um eine kleine Radtour in der Umgebung zu machen. Ab und zu - höchstens dreimal im Monat, betont er - wollte er seine beruflichen und privaten Verpflichtungen vergessen und allein sein. In der Nähe des schon vor vielen Jahrzehnten eingemeindeten Ortes Morzg, der trotzdem seinen dörflichen Charakter bewahrt hat, bog Leopold in eine Seitengasse ein, die an Einfamilienhäusern, Gärten, einer Wiese und einer Blockhütte vorbeiführte. Neben der Hütte standen ein Holztisch und zwei Bänke. Leopold beschloss, eine Pause zu machen, lehnte das Rad gegen die Hüttenwand, setzte sich auf eine Bank, zündete sich eine Pfeife an und begann, Zeitung zu lesen. So vergingen zwanzig Minuten, vielleicht etwas mehr. Er wollte sich wieder auf den Weg machen, hatte die Zeitung zusammengefaltet und in die Innentasche seiner Jacke gesteckt, als er das Quietschen von Reifen hörte. Der Mann war jung, zwanzig, vielleicht zweiundzwanzig Jahre alt. Er trug eine Schirmmütze und einen Pullover mit V-Ausschnitt im Stile englischer Gentlemen der Zwanzigerjahre. Er sprang aus dem Wagen, einem roten Cabriolet, schlug die Tür hinter sich zu und schrie: 'Das ist doch wohl privat hier, oder?! Schau dass d' weiterkommst!' Leopold versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. 'Ich wollte ohnehin gehen', sagte er leise. Es war ärgerlich, von einem Menschen, der nur halb so alt war wie er selbst, geduzt zu werden. Mochte er ihn anschreien und beschimpfen, wenn er wollte, aber bitte mit dem nötigen Respekt. 'Es tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass es sich hier um einen Privatgrund handelt.' 'Na, das ist ja wohl logisch! Kannst' nicht lesen?' Der junge Mann zeigte mit dem Finger auf ein Schild, auf dem in roten Lettern Privatgrund! Betreten verboten! stand. Es hing einige Meter entfernt an einem Draht, der zwischen zwei Pfosten gespannt war. Er versperrte den Weg zu einem Pfad, der an der Hütte vorbei zu einem Waldstück führte. 'Das muss ich übersehen haben', murmelte Leopold. 'Ich hol' mein Rad, dann bin ich weg.' 'Ja, und beeil' dich, sonst lass ich den Hund frei.' Leopold hatte einen Hund weder gehört noch gesehen. Als Elfjähriger war er von einem Schäferhund in die rechte Wange gebissen worden. Seitdem hasste er Hunde. Leopold ging zu seinem Fahrrad. Sein Widersacher blieb dicht hinter ihm. Er sei es Leid, schrie er, sich mit Obdachlosen, Jugendlichen oder türkischen Großfamilien herumschlagen zu müssen. Die Türken verbinden ihre Wochenendausflüge immer wieder mit einem Picknick auf seinem Grundstück. Er und sein Vater hätten schon zweimal Anzeige erstattet. 'Sie müssten das Schild direkt neben der Hütte anbringen oder das Grundstück einzäunen', meinte Leopold. 'Der Tisch und die Bänke sind ja nur zwei Meter vom Straßenrand entfernt und.' 'Willst du mir erklären, was ich tun soll? Komm mir nicht noch einmal zu nahe mit deinem Scheißrad. ich schwör's, wenn ich dich das nächste Mal seh', fahr' ich dich nieder!' Leopold drehte sich um. In der rechten Hand hielt er immer noch die Pfeife. Er holte aus und stach zu. Das Mundstück der Pfeife drang durch das linke Auge in das Gehirn des jungen Mannes. Er starb wenige Stunden später in der Intensivstation