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Herr Faustini verreist

Roman
ISBN/EAN: 9783552060258
Umbreit-Nr.: 1504231

Sprache: Deutsch
Umfang: 140 S.
Format in cm: 1.7 x 19 x 12
Einband: gebundenes Buch

Erschienen am 04.02.2006
€ 14,90
(inklusive MwSt.)
Nicht lieferbar
  • Zusatztext
    • Herr Faustini lebt allein in einem kleinen Dorf nahe der Schweizer Grenze. Er verbringt viel Zeit in öffentlichen Verkehrsmitteln. Er spürt den "Reststücken herrenloser Zeit" nach, in einer auf Nutzen und Gewinn ausgerichteten Welt. Er nimmt gern den längsten und niemals den kürzesten Weg, er sucht nach Inseln stillstehender Zeit. Als seine Schwester, die im Süden verheiratet ist, einen runden Geburtstag feiert und ihn einlädt, macht er sich auf eine Reise, die ihn weit aus seinem gewohnten Leben entführt. Herr Faustini, unangepasst, traumverloren und oftmals ziemlich ungeschickt, ist nicht ganz von dieser Welt - doch ohne ihn wäre sie um vieles ärmer.
  • Autorenportrait
    • Homepage von Wolfgang Hermann
  • Leseprobe
    • Mit einemmal meldete sich nach gar nicht so langer Wartezeit, die dem Telefonkunden mit Musik, dann mit Ansprache, wieder mit Musik, dann mit der Aufforderung, Geduld zu haben, dann mit der Versicherung, daß die erste freie Leitung für ihn reserviert wäre, verkürzt wurde, nach gar nicht so langer Wartezeit also meldete sich Frau Judith Robatscher, die sich mit ihrem vollen Namen vorstellte und fragte 'Was kann ich für Sie tun?'. Herr Faustini stellte sich selbstredend ebenfalls mit seinem Namen vor, Faustini, sagte er und räusperte sich, denn er hatte nicht erwartet, bei der Zugauskunft als Person in Erscheinung treten zu müssen. Umso besser, dachte er. Soll Frau Robatscher nur wissen, wer da verreist. Denn wenn er seine Reiseabsichten einmal öffentlich mitgeteilt hatte, konnte er nicht mehr zurück. Nun wollte Herr Faustini wissen, ob es eine Zugverbindung geradewegs in den Süden gebe. Von Bregenz geradewegs in den Süden. So wie jahrhundertelang die Kaufleute über Chur die berüchtigte Via Mala hinauf über den San Bernardino und steil hinunter ins Tal nach Bellinzona gezogen waren. Und nicht nur die Kaufleute. Landsknechte waren es, die in großen Haufen durch die Jahrhunderte den Weg an Chur vorbei und hinein in die Via Mala und hinauf in die rauhen Höhen des San Bernardino gezogen waren, angeheuert von italienischen Kriegsherren, die gutes Geld für die Dienste der Krieger mit ihren Langspießen zahlten. Ob es eine Verbindung über Chur nach Ascona gebe, wollte Herr Faustini wissen. Frau Judith Robatscher meinte, ja, es gebe eine Verbindung über St.Margrethen nach Chur. In Chur müsse man umsteigen in den Bus nach Bellinzona. In Bellinzona umsteigen in den Zug nach Locarno. In Locarno umsteigen in den Bus, der nur zehn Minuten nach Ascona Posta benötige. Insgesamt dauere die Reise auf dieser Strecke über zehn Stunden. Dann nehme ich diese Strecke, meinte Herr Faustini. Frau Judith Robatscher gab zu bedenken, daß Herr Faustini auf der anderen Strecke in nur sechs Stunden in Ascona wäre. Was einer Zeitersparnis von über vier Stunden entspreche. Herr Faustini fragte Frau Judith Robatscher, wie sie persönlich über die solcherart gesparten vier Stunden verfügen würde. Nun, sie persönlich würde, meinte Frau Judith Robatscher, die vier Stunden für einen Einkaufsbummel verwenden. Oder einen Besuch im Kino. Verstehen Sie, meinte Frau Judith Robatscher. Herr Faustini verstand vollkommen. Das ziellose Umherstreifen gehörte zu seiner Spezialdisziplin. Allerdings war er noch nie in einer wildfremden Stadt ziellos umhergestreift. Das könnte eine unvorhergesehene Wendung nehmen. Zum Beispiel könnte vierstündiges Umherstreifen in der Stadt Bellinzona oder in der Stadt Chur damit enden, daß Herr Faustini von einem bestimmten Schaufenster nicht mehr loskam, sei es ein Geschäft für Herrenbekleidung, sei es ein Geschäft für Elektrowaren oder gar ein Geschäft für Kosmetikartikel, von denen Herr Faustini nun unfreiwillig wegen des Geburtstags seiner Schwester ein klein wenig verstand. Nicht weil ihn die Gier, alle diese Gegenstände besitzen zu wollen, an dem Schaufenster festhielt, kam Herr Faustini nicht mehr davon los. Weit eher war es ein ihm nur halbbewußtes Verlangen, die gesehenen Dinge nicht verlassen zu können, ohne sie in eine innere Ordnung gebracht zu haben, worin sie halbwegs geborgen waren. Denn auch die scheinbar leblosesten Dinge haben doch in sich ein Verlangen, in einer Ordnung aufgehoben zu sein, meinen Sie nicht, Frau Judith Robatscher, fragte Herr Faustini. Frau Judith Robatscher schwieg einen Atemzug lang, und sie schwieg einen zweiten und einen dritten Atemzug lang. Herr Faustini klopfte leise auf den Telefonhörer, vielleicht war das Gespräch ja unterbrochen worden. Frau Judith Robatscher, sind Sie noch da, fragte Herr Faustini. Ja, sagte Frau Judith Robatscher wie aus der Stille einer kühlen Höhle heraus, in die man sich an besonders warmen Tagen gerne zurückziehen würde, wäre eine Höhle zur Hand. Meistens ist aber an den besonde