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Ein Licht über dem Kopf

Erzählungen
ISBN/EAN: 9783552060005
Umbreit-Nr.: 1421960

Sprache: Deutsch
Umfang: 192 S.
Format in cm: 2 x 21 x 13.4
Einband: gebundenes Buch

Erschienen am 28.02.2005
€ 17,90
(inklusive MwSt.)
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  • Zusatztext
    • In den Erzählungen von Dimitré Dinev begegnen wir Menschen unterschiedlichster Herkunft. Einige Geschichten spielen in Bulgarien zur Zeit der kommunistischen Herrschaft, andere in Wien, freilich einem Wien der Einwanderer, der Unterprivilegierten, die jeden Tag aufs neue um ihre bloße Existenz zu kämpfen haben. Dinev erzählt mit viel Humor in einer ebenso prägnanten wie poetischen Sprache von jenen, die an der Grenze leben, und schafft, was nur die wirklich Großen können: das Schöne und das Schreckliche nebeneinander bestehen zu lassen. Er gibt den Heimatlosen eine Sprache und entführt uns in eine Welt, die wir nicht vergessen werden - die literarische Neuentdeckung der letzten Jahre.
  • Autorenportrait
    • Dimitré Dinev, geboren 1968 in Bulgarien, besuchte das Bertolt-Brecht-Gymnasium in Plovdiv; ab 1986 erste Veröffentlichungen in bulgarischer, russischer und deutscher Sprache. 1990 Flucht nach Österreich, Studium der Philosophie und der russischen Philologie in Wien. Sein erster Roman, Engelszungen (Deuticke, 2003), wurde mehrfach ausgezeichnet und zu einem großen Erfolg bei Kritik und Publikum. Lebt als freier Schriftsteller in Wien. Die Erzählungen Ein Licht über dem Kopf sind 2005 im Deuticke Verlag erschienen.
  • Leseprobe
    • Es geschah an einem Frühlingstag. Er saß auf einer Bank, rauchte und beobachtete, wie zwei Arbeiter die Straßenschilder auswechselten und wie aus Boulevard Lenin Boulevard König Boris III. wurde. Er beobachtete, wie die Vögel sich auf dem Boulevard niederließen und die Straßenköter sich hinlegten. Vögel und Hunde kümmerte es nicht, ob sie sich auf einem Boulevard namens Lenin oder König Boris eine Ruhepause gönnten. Ihn schon. Da begriff er zum ersten Mal, daß er weder wie die Vögel noch wie ein Hund leben wollte. Er begriff, daß man jeden Tag arbeitete und trotzdem am nächsten Tag ärmer als zuvor erwachte. So waren die Zeiten. Er hatte sie erkannt. Nichts war mehr so wie zuvor. Und wahrscheinlich war es auch nie anders gewesen. Von da an liebte er die Abwechslung. Als erstes wechselte er seine Kleidung. Statt einem Sakko zog er eine Sportjacke, statt den Schuhen Sportschuhe an. Statt in die Lottostube zu gehen, ging er zur Bank einer benachbarten Stadt. Statt seinem Gesicht trug er eine Maske, statt einem Kugelschreiber eine Pistole. Statt dem Glück hinterherzuhinken, lief er ihm mit Geld in den Händen entgegen. Die Miliz befand sich gerade in Umwandlung, aus ihr sollte die Polizei werden. An dem Tag gab es weder einen Milizionär noch einen Polizisten in der Nähe der Bank. So waren die Zeiten. Wechselhaft. Ein Glück, daß er sie so früh erkannt hatte. So hatte alles begonnen. So war er ans Geld herangekommen. Ursprünglich wollte er mit diesem Geld im Ausland eine Operation für seine Tochter bezahlen. Oder einfach einen Stapel Geldscheine unter ihr kleines Füßchen schieben, damit sie gerade stehen konnte. Aber er fuhr nicht mehr nach Hause. Er war schon in die Abwechslung verliebt. In Wirklichkeit hieß er Vassil Gelev und hatte in einer kleinen traurigen Stadt eine Frau und eine Tochter, der ein kleines Stapelchen Geld unter ihrem rechten Füßchen fehlte, um die Erde zu erreichen. Aber was ist schon die Wirklichkeit. War denn Stojan Wetrev, der drei Wechselstuben, zwei Leibwächter, einen Freund und keine Sorgen hatte, weniger wirklich? Nein. Denn nichts war wirklicher als die Veränderung. So dachte Stojan und war zufrieden. Er liebte die Zeiten, in denen er lebte. Die Frauen liebte er auch, denn sie waren für ihn wie die Zeiten. Sie wechselten oft ihre Meinungen und Stimmungen. Er hatte mal versucht, sie zu verstehen. Es war ihm aber nicht gelungen. 'Ich liebe dich', hatte ihm Maja, seine erste Liebe, unter den Linden des Boulevards Lenin gesagt. 'Ich liebe dich nicht', meinte sie zwei Wochen später unter denselben Linden. Er hatte damals immer noch dasselbe Gesicht, dasselbe Herz und dieselben Gefühle, trotzdem liebte sie ihn nicht mehr. Er verstand das damals nicht. Heute dagegen wollte er die Frauen nicht mehr verstehen. Heute liebte er sie nur noch. Sie liebten ihn, dann liebten sie ihn wieder nicht. Das war alles, was er über sie wußte. Deswegen merkte er sich auch schwer ihre Namen. Er sagte auch nie einer Frau, daß er sie liebte, denn kaum war er mit ihr, liebte er schon die nächste. Denn nichts liebte Stojan Wetrev mehr als die Abwechslung.