Detailansicht

Vorübergehend Wien

ISBN/EAN: 9783552053663
Umbreit-Nr.: 1504033

Sprache: Deutsch
Umfang: 304 S., mit zahlreichen Abbildungen
Format in cm: 2.5 x 21 x 13.2
Einband: gebundenes Buch

Erschienen am 04.03.2006
€ 23,50
(inklusive MwSt.)
Nicht lieferbar
  • Zusatztext
    • Im dritten Stock des Jüdischen Museums in Wien steht in einem gläsernen Schaukasten eine Schachtel, gefüllt mit Devotionalien der Erinnerung: Spielsachen, Notizen, Fotos, Filmprogramme, Postkarten, ein Tagebuch. Das jüdische Ehepaar Franz und Anni Bial hatte diese Schachtel für die Tochter Lilli gepackt, die mit einem Kindertransport nach England kam; die Eltern wurden deportiert und ermordet. Wie ein Magnet zieht diese Hinterlassenschaft die Schweizerin Jula Fink nach Wien, auf die Spuren anderer Verschwundener, von deren Schicksalen ebenfalls bloß Bruchstücke geblieben sind. Sie stößt auf Namen wie Friedl Dicker-Brandeis, Viktor Ullmann, Sidonie Nádherný und Karl Kraus, Marie Zimmermann und Gustav Klimt. Katharina Geiser ist in ihrem ersten Buch eine an W. G. Sebald gemahnende, wunderbar anrührende Spurensuche gelungen.
  • Autorenportrait
    • Katharina Geiser wurde 1956 geboren und studierte in Zürich Germanistik. Lebt und schreibt in Wädenswil am Zürichsee. Vorübergehend Wien ist ihr erstes Buch.
  • Leseprobe
    • Die Vorstellung genügt nicht Deshalb. Erstens, zweitens, drittens. Es gibt immer viele Motive. Hin und damals. Nicht daß ich die Uhrzeiger zurückdrehen wollte, aber es ist mir danach, mit eigenen Fingern zu zeigen. Für Wien benutze ich Schriften und Erzähltes wie einen Handlauf. Ich halte mich daran, wechsle die Ebenen, gehe tiefer nach innen, scheue nicht zurück. Leibhaftig will ich selber sehen und schmecken, als gelte es zu prüfen, nein, als müßte ich mich etwas versichern, was sich nicht einfach in Luft aufgelöst haben kann. Es reicht nicht, was in starren Buchstaben auf brüchig gewordenem oder langsam sich verfärbendem Papier steht: aufgebrühter Kaffee oder Tee aus blaugrüner Tasse, Schweiß, gekochter Kohl, Kiefernharz, aufgeschnittene Äpfel und Wasserfallgesprüh, Leinöl, lange nicht gewaschenes Haar, hundertfach von Kinderhänden verwendete Spielkarten, lehmige Erde, frisches Brot, Bienenwachs, Kohlestaub, Fischkleister, Maiglöckchen. Wenn nicht Schlüsselblumen oder Pfingstrosen. 'Kannst Du mir sagen, wie ich es anstellen könnte, Dir täglich Blumen zu schicken? Oder genügt Dir die Vorstellung?' hat Karl Kraus Sidonie Nádherny´ gefragt. Sind Antworten zu finden, oder verstellen die Fragen mögliche Erwiderungen? Ich möchte Tüpfel von Glück und Unglück der Wiederholbarkeit und mithin der Ernüchterung oder einfach der inneren Bewegung aussetzen. Weil ich Endgültiges schlecht ertrage. 'Vielleicht werden wir aber alles liebevoller anschauen, da das mit dem Verlieren so schnell geht!' Friedl Dicker muß recht behalten. Ein Augenwischen und außer Sicht; nur das nicht. Ich brauche von niemandem die Erlaubnis, unter stürzendem Brausen zu stehen, dort, wo andere sich auch hingestellt haben. Ich darf meine Nase in einen bestimmten Korb voller zugrundegegangener, mit nassem Zeitungspapier belegter Trauben stecken, mich von einer fünfstelligen Nummer auf einem linken Arm erschüttern lassen, zur Beruhigung Hovaletten schlucken, auf Randsteinmustern in meinem eigenen Tempo Strecken begehen, mitten auf einer Kreuzung innehalten und schreien und mir daraufhin von Fahrzeuglenkern und Mitfahrern eine ganze Schar Vögel zeigen lassen, und ich spinne nicht, nur weil ich Tatorte der Leidenschaft oder der Angst oder einer belanglosen Begebenheit finden will, umkreisen wo immer möglich diesen oder jenen Boden. Ich bin so wählerisch, wie ich es nur sein kann. Alles in allem bieten sich für die wiederholten Fahrten nach Wien plausible Erklärungen an, drei an der Zahl. Wenngleich sie nur die halbe Wahrheit sind. Zum einen ist an einem äußeren, schräg über mir sperrig gewachsenen Ast meines Stammbaums ein Menschenname festgemacht, der zu einem Großonkel gehört. Dem Schneider Julius Fink war Wien die zweite Heimat. Es hatte ihn in jungen Jahren auf Wanderschaft gezogen, an ein Auskommen im kleinen Tal war nicht mehr zu denken. Monatelang war er als Geselle unterwegs gewesen, bis er in Wien zu bleiben beschloß, eine Unterkunft fand und auf eigene Rechnung zu arbeiten begann. Gleichzeitig nahm sich das Glück seiner an. Das Nähmaschinengesurr machte seine Wortkargheit wett. Vielleicht störte ihn sein holpriges Deutsch, sprachgewandt war er nicht. Obwohl er zu jener Zeit unter den vielen nach Wien zugereisten und seßhaft gewordenen Leuten sicher nicht auffiel. Das Talent lag ihm, der aus einem Ort im schweizerischen Glarnerland stammte, in den feingliedrigen Händen. Dieser spürsinnige Mann hatte ausgeprägte hohe Backenknochen, als schmerzlich wurden sie beschrieben; er konnte zuhören, habe ich mir sagen lassen, und vernahm das Leiseste deutlich, manchmal bevor es ausgesprochen wurde. Julius Fink gab auf das Brodeln im Untergrund acht. Das war dann schon in den Dreißigern, wo die Attacken und Anschläge der noch verbotenen Nazis ihn erschreckten und die mit Haß durchwirkten Sätze mehr als sein Trommelfell touchierten. Schließlich, als gründunkle Höfe um die schwarzen Augen seiner Frau Else wuchsen, als diese Augen so viel langsamer als üblich wande