Detailansicht

Bilderbuch ohne Bilder

Gedichte in Prosa
ISBN/EAN: 9783150107140
Umbreit-Nr.: 1625170

Sprache: Deutsch
Umfang: 111 S.
Format in cm: 1.4 x 15.7 x 10
Einband: gebundenes Buch

Erschienen am 04.02.2009
€ 7,95
(inklusive MwSt.)
Nicht lieferbar
  • Zusatztext
    • Andersens "Gedichtsammlung in Prosa" hat seit 1840 Leser in aller Welt verzaubert. In 33 Miniaturen erzählt es davon, wie der Mond allabendlich einen jungen Maler besucht und ihm von dem erzählt, was er auf seinen Reisen erlebt hat. Heinrich Detering gesellt in seiner kommentierten Neuübersetzung diesem literarischen Experiment einige verwandte Texte des Autors hinzu: Ein Hauptwerk des Märchendichters ist wieder zu entdecken.
  • Leseprobe
    • Das ist merkwürdig! wenn ich am allerwärmsten und besten empfinde, dann ist es, als wären mir Hände und Zunge gebunden, ich kann es nicht wiedergeben, ich kann es nicht aussprechen, wie ich es hier drinnen in mir habe; und trotzdem bin ich ein Maler, das sagen mir meine Augen, das haben sie erkannt, alle, die meine Skizzen und Bilder gesehen haben. Ich bin ein armer Geselle, ich wohne hinten in einer der schmalsten Straßen, aber an Licht fehlt es mir nicht, denn ich wohne ganz hoch oben, mit Aussicht über alle Dächer. Die ersten Tage, nachdem ich hierher in die Stadt gekommen war, wurde es mir so eng und einsam; statt des Waldes und der grünen Hügel bestand mein Horizont jetzt aus nichts als den grauen Schornsteinen. Nicht einen Freund besaß ich hier, nicht ein bekanntes Gesicht grüßte mich. Eines Abends stand ich recht traurig an meinem Fenster, öffnete es und blickte hinaus. Nein, wie war ich da froh! ich sah ein Gesicht, das ich kannte, ein rundes, freundliches Gesicht, meinen besten Freund von zuhause in der Ferne: das war der Mond, der liebe, alte Mond, unverändert derselbe, ganz genau so, wie er aussah, wenn er da zwischen den Weidenbäumen am Moor hindurch zu mir hereinlugte. Ich warf ihm Kusshände zu, und er schien mir direkt in die Kammer und versprach, dass er an jedem Abend, an dem er draußen wäre, ein wenig zu mir hereinsehen wollte; das hat er seither wirklich auch getan; schade, dass er immer nur so kurze Zeit bleiben kann. Jedesmal wenn er kommt, erzählt er mir dies oder das, das er in der letzten Nacht gesehen hat oder am selben Abend. "Jetzt male auf, was ich dir erzähle", sagte er bei seinem ersten Besuch, "dann bekommst du ein ganz passables Bilderbuch zusammen." Das habe ich nun getan, viele Abende lang. Ich könnte ein neues Tausendundeine Nacht in Bildern geben, auf meine Weise, aber das würden doch zu viele; die Bilder, die ich gebe, sind nicht ausgesucht, sondern kommen, wie ich sie gehört habe; mag nur ein großer Maler, ein genialer Dichter oder Tonkünstler etwas daraus machen, wenn er will; was ich zeige, sind bloß lose Umrisse auf dem Papier, und zwischendurch meine eigenen Gedanken, denn es geschah nicht jeden Abend, dass der Mond kam, es war öfter eine Wolke im Weg, oder zwei. Erster Abend "Letzte Nacht", das ist der Mond in seinen eigenen Worten, "glitt ich durch Indiens reine Luft, ich spiegelte mich im Ganges: meine Strahlen versuchten sich durch die dichte Hecke der alten Platanen zu drängen, die sich da verflechten und wölben, so dicht wie ein Schildkrötenpanzer. Da kam aus dem Dickicht ein Hindu-Mädchen, leicht wie eine Gazelle, schön wie Eva; es war etwas so Luftiges und doch so Festes und Volles an Indiens Tochter, dass ich ihre Gedanken sehen konnte durch die feine Haut; die dornigen Lianen zerrissen ihre Sandalen, aber sie schritt rasch aus; das Wild, das am Fluss seinen Durst gestillt hatte, sprang scheu vorbei, denn in der Hand hielt das Mädchen eine brennende Lampe; ich konnte das frische Blut in den feinen Fingern erkennen, die sich als Windschutz um die Flamme schlossen. Sie kam an den Fluss, setzte die Lampe auf die Strömung, und die Lampe trieb flussabwärts; die Flamme flackerte, als wolle sie erlöschen, aber sie brannte doch, und die schwarzen, funkelnden Augen des Mädchens folgten ihr mit einem beseelten Blick, hinter den langen Seidenfransen der Wimpern; sie wusste, wenn die Lampe so lange brannte, wie sie sie noch erspähen konnte, dann lebte ihr Geliebter noch, erlosch sie aber, war er tot; und die Lampe brannte und bebte, und ihr Herz brannte und bebte, sie sank auf die Knie und sprach das Gebet; an ihrer Seite lag im Gras die nasse Schlange, sie aber dachte allein an Brahma und an ihren Bräutigam. "Er lebt!" rief sie jubelnd, und von den Bergen kam das Echo: "er lebt!" Zweiter Abend "Das war gestern", erzählte der Mond mir, "da schaute ich hinab in einen kleinen, von Häusern umschlossenen Hof, da lag eine Henne mit elf Küken, ein schönes kleines Mädchen sprang um