Detailansicht

Raum und Zeit

eBook - Denkformen des Politischen bei Hannah Arendt
ISBN/EAN: 9783593422602
Umbreit-Nr.: 5909203

Sprache: Deutsch
Umfang: 250 S., 1.86 MB
Format in cm:
Einband: Keine Angabe

Erschienen am 10.04.2014
Auflage: 1/2014


E-Book
Format: PDF
DRM: Digitales Wasserzeichen
€ 31,99
(inklusive MwSt.)
Sofort Lieferbar
  • Zusatztext
    • Der Band wagt eine Deutung von Arendts Gesamtwerk: Im Zentrum stehen dabei die Kategorien Raum und Zeit für eine Neuinterpretation des Politischen. Erst so gewinnt Arendts Rehabilitierung des politischen Denkens ihre produktive Dynamik und geschichtseröffnende Perspektive. Herausgelöst aus den Vereinnahmungen durch Neoaristotelismus und Republikanismus erscheint Arendt als kritische und postmoderne Denkerin.
  • Kurztext
    • Der Band wagt eine Deutung von Arendts Gesamtwerk: Im Zentrum stehen dabei die Kategorien Raum und Zeit für eine Neuinterpretation des Politischen. Erst so gewinnt Arendts Rehabilitierung des politischen Denkens ihre produktive Dynamik und geschichtseröffnende Perspektive. Herausgelöst aus den Vereinnahmungen durch Neoaristotelismus und Republikanismus erscheint Arendt als kritische und postmoderne Denkerin.
  • Autorenportrait
    • Karlfriedrich Herb ist Professor für Politische Philosophie an der Universität Regensburg. Mareike Gebhardt und Kathrin Morgenstern sind dort wissenschaftliche Mitarbeiterinnen.
  • Leseprobe
    • Danksagung<p> Dieser Band ist das Ergebnis einer Tagung am 10. und 11. November 2011 in Regensburg, die sich unter dem gleichen Titel zur Aufgabe gemacht hatte, das Werk Hannah Arendts nicht nur über die Kategorie des Raumes zu erschließen, sondern auch die Kategorie der Zeit als eine wichtige Denkform in Arendts Philosophie zu markieren. Diesem Ziel folgt auch der vorliegende Band, der sich zunächst auf den Raum und seine Grenzen konzentriert, bevor es im zweiten Teil um das Verhältnis zwischen Welt und Zeit geht.Bei der Tagung im November 2011 und der Drucklegung des Bandes sind wir vom Regensburger Team tatkräftig und kompetent unterstützt worden. Unser besonderer Dank gilt deshalb Sabine Hausner, Magdalena Scherl, Philipp Heil, Georg Jürgens, Matthias Gilch, Kathrin Stürmer und Franziska Sörgel.<p> Wir möchten an dieser Stelle der Katharina und Leonhard Deininger-Stiftung für ihre großzügige Förderung der Tagung sowie der Publikation herzlich danken.<p> Karlfriedrich Herb, Mareike Gebhardt, Kathrin Morgenstern<p> Gegenwärtig sein - Hannah Arendt neu denken<p> Karlfriedrich Herb, Mareike Gebhardt, Kathrin Morgenstern<p> Ich bin nicht Stiller, so beginnt Max Frisch seinen gleichnamigen Roman. Ich bin keine Philosophin, so versteht sich Hannah Arendt in ihrem berühmten Gespräch mit Günter Gaus. Damit überschreibt die Autorin ihr Werk als Politische Theorie, das wir bis heute hartnäckig als Politische Philosophie lesen. Das Leben, das Hannah Arendt geführt, und das Werk, das sie uns zu denken gegeben hat, machen ihren Eigensinn verständlich. Die ersehnte Zuflucht in der Philosophie hat sie anfangs nicht gefunden und am Ende nicht mehr gesucht. Der Abschied von der Philosophie sollte endgültig sein, selbst dann noch, als sie sich in ihrem Spätwerk klassischen Fragen der Philosophie zuwandte. "Denken ohne Geländer" (IWV 113) nannte Arendt den Habitus, der ihrer Bodenlosigkeit und Haltlosigkeit auf eigentümliche Weise Rechnung trägt: Die Erfahrung dieser Ortlosigkeit prägte ihre Raumtheorie zutiefst, die immer der Versuch war, dem Politischen eine Heimat zu geben. Die Denkerin des suchenden Gesprächs, des politischen Wettstreits und des gemeinsamen Handelns entpuppt sich selbst als Einzelkämpferin, als Solitärin. Die Republik der Freien und Gleichen, für die sie ein Leben lang geworben hat, ist Privatsache geblieben. Mag sein, dass dieser Widerspruch zur Textur ihres Lebens und ihres Werkes gehört. Selbstbewusst jedenfalls hat sie auf ihrer Stellung als paria in der Gesellschaft der Philosophen beharrt. Dabei hat der Eigenwille, der Arendts politisches Denken auszeichnet, den Erfolg und die Wirkung ihres Werkes keineswegs beeinträchtigt. Das Gegenteil ist der Fall: Die Rehabilitierung der Politischen Philosophie am Ende des 20. Jahrhunderts trägt ihre Handschrift. Für die Wiederentdeckung des Politischen wird sie von Neoaristotelikern, Nachdenkern der Republik, Verweigerern der Moderne und Partisanen der Postmoderne gleichermaßen gefeiert, freilich aus unterschiedlichen Motiven.<p> Tatsächlich hat Arendt den öffentlichen Raum emphatisch und beharrlich als den eigentlichen Ort der Freiheit, als Heimstätte des Politischen und Geburtsstätte des bürgerlichen Menschen gefeiert. Allein hier sind, wenn überhaupt, Freiheit und Authentizität zuhause. Auf den ersten Blick wirkt Arendts Landkarte des Politischen sehr übersichtlich. Sie ist durch eine trennscharfe Unterscheidung von Öffentlichem und Privatem leicht lesbar. Arendt zieht die Aristotelischen Grenzlinien zwischen polis und oikos nach, jedoch ohne an ihre Umsetzbarkeit zu glauben. Vom ersten Gedanken an ist ihre Theorie des öffentlichen Handelns eine Theorie der Bedrohung und Auflösung des politischen Raums. Diese Dekadenz trägt einen unverdächtigen Namen: die bürgerliche Gesellschaft. Ihr fataler Triumph in der Moderne ruiniert die Grenzen des Politischen und Privaten und besiegelt einen Niedergang, der weit über das Politische hinausgeht und das Schicksal der Menschen im Ganzen markiert. In diesem Sinne kann man die Phänomenologie des öffentlichen Raumes in ihrem Hauptwerk Vita activa (1958) als eine Pathologie des Politischen lesen. Bereits in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) stößt man auf Spuren einer Theorie des politischen Raumes. Wer könnte übersehen, wie beharrlich Arendt in eigenem Namen die strikte Trennung zwischen öffentlichem und privatem Raum fordert, wie sehr ihr an der Reinheit des Politischen gelegen ist. Schließlich lässt sie an ihrem Reinheitsgebot sogar die Französische Revolution als apolitisch scheitern. Unmissverständlich zeigt sie, welch drastische Therapien nötig wären, um die modernen Staaten zur Wiederherstellung dieser Reinheit und zur Regeneration der Politik zu bewegen. All dies ist bekannt und so oft beschrieben worden, dass zuweilen der Eindruck entstehen muss, Arendts politisches Denken erschöpfe sich geradezu in dieser Phänomenologie des politischen Raumes. Der erste Eindruck trügt. Arendts politische Philosophie lässt sich - so die gemeinsame Überzeugung der Autorinnen und Autoren dieses Bandes - erst dann ganz entschlüsseln, wenn sie aus dem Zusammenspiel der Denkformen des Raumes und der Zeit verstanden wird. Insofern hat der Titel Raum und Zeit durchaus programmatischen Charakter.<p> Nicht ganz ungewollt ist, wenn der Titel des Bandes auch an Immanuel Kant denken lässt. Schließlich gehören Raum und Zeit für Kant in der Kritik der reinen Vernunft zu den apriorischen Anschauungsformen, die all unser Wissen von der Welt konstituieren und somit Erfahrung, Erkenntnis und Wissenschaft möglich machen. In verwandelter Form verfolgt dieser Band ein solches Kantisches Projekt: Es geht darum, Raum und Zeit als die beiden gleichursprünglichen und gleichwertigen Denkformen des Politischen bei Hannah Arendt zu begreifen. Es versteht sich von selbst, dass sich eine solche Neulektüre nicht auf eine Analyse der Vita activa, ja auch nicht auf den weiteren Rahmen der politisch relevanten Werke Arendts beschränken kann. Sie verlangt vielmehr die Konfrontation mit sämtlichen Schriften. Insofern zielen die folgenden Beiträge auf eine Interpretation des gesamten ¼uvres von Arendt. Sie zeigen, dass das Zusammenspiel von Raum und Zeit ein Grundproblem darstellt, das Arendts Werk im Ganzen markiert: von ihrer Dissertation über Augustinus bis in ihre allerletzten Veröffentlichungen. Selbst ihr unvollendetes Projekt der politischen Urteilskraft ringt noch mit der Frage, wie sich das Politische in seiner raumzeitlichen Bedingtheit denken lässt. Gerade im Spätwerk wird sichtbar, dass die Denkformen von Raum und Zeit nicht nur die Textur ihrer Schriften zur vita activa prägen, sondern auch ihre Versuche zur vita contemplativa dominieren. Insofern sind beide Daseinsformen auch für die Grundproblematik von Arendts Werk und Leben von immenser Bedeutung: Wie lassen sich Politik und Philosophie in ein versöhnliches Verhältnis bringen, so dass der politischen Philosophie die Qual der Wahl zwischen Politik und Philosophie erspart bleibt?<p> Räumliches, Allzuräumliches - Politisches Handeln im Zwischenraum<p> Wer sich auf die Suche nach den zentralen Referenzpunkten der Arendtschen Theorie des politischen Raums begibt, wird in ihren beiden wichtigsten Werken aus den fünfziger Jahren fündig: Sowohl in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft als auch in der Vita activa erscheint der Raum als die politische Kategorie schlechthin. Die Dominanz der Raumkategorie ist hier so offensichtlich, dass die Forschung den Raum gleichsam zur wichtigsten Denkfigur in Arendts politischer Theorie erklärt hat. Sieht man näher hin, so beruht eine solche Auszeichnung häufig auf einer ontologischen Interpretation des Raums. Der Raum wird als substantielle Grundlage verstanden, die dem Handeln vorausgeht und politisches Handeln in unterschiedlichen Manifestationen ermöglicht. Unser Vorschlag zur Neulektüre der Arendtschen Raumtheorie nimmt Abstand von solchen Versuchen, das Wesen des öffentlichen Raumes ausfindig zu machen und ontologisch zu verankern. Arendts spatial turn verlangt vielmehr die Auflösung ontologischer Deutungsmuster. Das neuerliche Interesse der Geistes- und Sozialwissenschaften an der Entstehung sozialer, politischer und privater Räume gründet sich auf eine konstruktivistische Perspektive. Wir sind davon überzeugt, dass Arendt in dieser Hinsicht als Vordenkerin verstanden werden kann. Umgekehrt lässt sich vieles von dem, was Autoren wie Luce Irigaray, Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Michel de Certeau und Henri Lefebvre entdeckt haben, für die Interpretation des Raumes bei Arendt fruchtbar machen (vgl. Dünne/Günzel 2006: 9ff.). Lefebvres Idee von der Produktion des Raumes führt geradezu ins Herz der Arendtschen Theorie. Ohne jeden Bezug auf Arendt heißt es dort: "Die Polis hatte ihre Raumpraxis; sie hat ihren eigenen Raum geschaffen, d.h. ihn angeeignet. Daher rührt die neue Aufgabe, diesen Raum so zu untersuchen, dass er als solcher erscheint, in seiner Genese und seiner Form, mit seiner spezifischen Zeit bzw. seinen Zeiten" (Lefebvre 2006: 331). Im Folgenden wollen wir Arendts Raumtheorie als eine perfomativ-narrative Konstruktion politischer Öffentlichkeit und menschlichen Handelns verstehen. Es sind die Handelnden, die den öffentlichen Raum performativ hervorbringen. Es sind ihre Erzählungen vom Raum, die seine narrative Textur sichtbar werden lassen. Beides - Performativität wie Narrativität - erschließt sich nicht über eine räumliche Seinsgewissheit, sondern über eine topografische Konstruktion der Beschaffenheit und der Struktur des Politischen. Der politische Raum ist keine vom menschlichen Wirken unabhängige Entität, sondern das Ergebnis menschlichen Handelns. Damit ist er wie alle Produkte menschlicher Tätigkeit von Degeneration und Perversion bedroht. Diese Bedrohung hat unterschiedliche Gestalten und Ausmaße.<p> In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zeigt Arendt, wie Vermassung und Propaganda den politischen Raum korrumpieren. Die Nähe, die totalitäre Regime in der Masse kreieren, schafft keine warme und sichere Unterkunft, sondern eine Brutstätte der Anonymität. Wo der Zwischenraum zwischen den Menschen vernichtet wird, herrscht nichts als Leere und Isolation. Mit der Herrschaft der absoluten Einheit brachte der Totalitarismus das Verschwinden des inter homines esse zur Vollendung. Die amorphe Masse reagiert lediglich nach Bewegungsgesetzen - damit wird jegliche Spontaneität und Freiheit des menschlichen Handelns vernichtet. Schon im Werk von 1951 argumentiert Hannah Arendt mit den Kategorien ihres späteren politischen Denkens. Im Namen vermeintlicher Gleichheit bringt der Totalitarismus die Pluralität des menschlichen Seins zum Verschwinden, eben jene Pluralität, die Arendt als grundlegendstes Merkmal des öffentlichen Raums entdecken wird (vgl. VA 17).<p> Die historische Erscheinung des Totalitarismus übersetzt Arendt in der Vita activa in einen positiven Entwurf und schafft eine Handlungstheorie, die menschliche Freiheit betont und den gesellschaftlichen Neubeginn denkt. Der totalitären Bedrohung entkommen, sieht sich die moderne Welt mit zwei neuen Entwicklungen konfrontiert: mit einer Wissenschaft, die rein um des Fortschritts willen agiert, und mit einer Gesellschaft, die sich im Namen der Gleichheit die Konformität auf die Fahnen geschrieben hat (vgl. VA 42ff.). Arendt münzt diesen Befund in ein emphatisches Plädoyer gegen die totale Mechanisierung und Funktio-nalisierung mundaner Existenz um. Hält man die Perspektiven ihrer politischen Philosophie und ihre kritische Historiographie des Totalitarismus gegeneinander, so werden Kontinuität und Komplementarität erkennbar. Während die Vita activa auf der Grundlage von Arendts positivem Politikbegriff die fatale Logik der gesellschaftlichen und technischen Modernisierung offenlegt, sezieren die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft die totalitären Regime als Produkt einer pathologischen Modernisierung. In der Quintessenz führen Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und Vita activa zu einem resignativen Befund. In der Moderne erscheint die Deformation der politischen Öffentlichkeit nahezu unausweichlich: Die Individuen flottieren als Atome in einer Welt, die nicht mehr verbindet, sondern isoliert.<p> Als Motor dieser Entwicklung macht Hannah Arendt den neuen Götzen der Moderne, die Arbeit, aus. Er zeitigt desaströse Folgen für das menschliche Handeln und für den öffentlichen Raum. Beide existieren künftig nur in Schwundstufen: An ihre Stelle treten soziale Verhaltensmuster und gesellschaftliche Bereiche ohne definierte Grenzen und klare Markierungen - alles verschwimmt. Für Arendt hat die pathologische Modernisierung einen Eigennamen: "die Gesellschaft" (VA 56). Diese avanciert in der Vita activa zur entscheidenden Denkfigur der Pathologie des Politischen. Das Soziale bricht mit der strikten Aufteilung zwischen oikos und polis, auf der Arendt against all odds auch in der Moderne beharren will. So tritt neben die Privatsphäre der materiellen und sexuellen Reproduktion und den Raum der politischen Öffentlichkeit ein dritter Bereich: Im Sozialen, in der Gesellschaft - wie Arendt dieses verbotene Dritte eigenwillig benennt - kreuzen sich ökonomische und politische Interessen zu einem pathologischen Amalgam, das nach Mechanismen und Verhaltensregeln funktioniert. In der Kolonialisierung von Privatheit und Öffentlichkeit durch das Soziale macht Arendt die Grundbedingung des mundanen Versagens aus.<p> Die Forschung hat die Engführung durch Arendts hartnäckiges Festhalten am Aristotelischen Dualismus vielfach kommentiert und kritisiert. Vorübergehend scheint Arendt in ihrer Treue zur Aristotelischen Polis jegliche Sensibilität für gesellschaftlichen und politischen Ausschluss zu verlieren. Insofern wird die feministische Kritik an Arendts vehementer Verteidigung der Trennung von Privatem und Politischem niemanden überraschen. Für Arendt gilt unumstößlich: Tertium non datur - das Soziale zerrüttet die binäre Sicherheit menschlichen Lebens. Die behavioralen Kodices des Sozialen rücken die Individuen enger aneinander und drängen zur Gleichmachung. Die Distanz des Zwischen geht verloren. Mit der Zerstörung des inter homines esse verlieren die Menschen den Ort, an dem sie in Erscheinung treten und sich in ihrer Einzigartigkeit vor den Augen der Anderen enthüllen.<p> Bei aller Emphase für den öffentlichen Raum als exklusiven Ort von Spontaneität und Authentizität: Hannah Arendt ist zutiefst überzeugt von der Notwendigkeit des privaten Bereichs als Komplement des Öffentlichen. Im Privaten macht sie jenen unverzichtbaren Rückzugsraum aus, in dem sich die Bürger als Privatpersonen von den Strapazen des öffentlichen Handelns erholen. Ohne einen solchen Ort der Ruhe und Dunkelheit wäre das Individuum permanent dem grellen Licht der Öffentlichkeit ausgesetzt (vgl. VA 77). Wer sein Leben ausschließlich in der Helle der Öffentlichkeit führt, dem fehlt die nötige Tiefe, die allein in der Dunkelheit des Privaten zu finden ist. Auf seine Weise trägt auch das Private dazu bei, dass der Einzelne in der Welt sein Zuhause findet. Es sorgt für individuelle Verankerung in der Welt: Indem der Einzelne Eigentum erwirbt, wird er Teil der Welt, macht sie sich zu eigen und manifestiert so seine Zugehörigkeit zu ihr. Das Eigentum verleiht Stabilität angesichts der Vergänglichkeit und Unzuverlässigkeit des menschlichen Seins. Als Modernitätskritikerin geht Arendt dem Prozess nach, der die Stabilität des Eigentums in einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft gefährdet und es zu Kapital verflüssigt. Wie nicht anders zu erwarten, macht sie sich mit dieser Analyse in allen politischen Lagern verdächtig. Während linke Theoretiker ihre antimarxistische Konsum- und Ökonomiekritik als liberal verunglimpfen , wird sie von liberalen Denkern als antikapitalistisch verpönt. Freilich dürfte kein einzelner dieser Vorwürfe der Komplexität der Arendtschen Argumentation gerecht werden. Auch an dieser Stelle sträubt sich ihr Werk gegen eine eindimensionale ideengeschichtliche Einordnung. Sie blieb wohl auch hier paria: gefangen zwi-schen den Welten, in keiner Welt zuhause.<p> Wie sich das Werk Arendts überhaupt zu Moderne und Gegenwart verhält, darüber herrscht Uneinigkeit. Während es einer wohlwollenden Interpretin "nostalgisch" erscheint, verwerfen es andere als geradezu modernitätsfeindlich. Doch steckt in Arendts Wissenschafts- und Konsumkritik tatsächlich nur die traurige Erinnerung an bessere Zeiten, der verzweifelte Versuch einer neokonservativen Rückgewinnung des Gestrigen? Verweist uns ihre akribische Analyse moderner Verfallserscheinungen des Politischen lediglich auf die Vergangenheit? Stammt ihre Kritik der Moderne aus dem Geist der Prämoderne? Heute scheinen durchaus andere Lesarten plausibel, die nicht die Erinnerung an die Antike suchen, sondern aufmerksam machen auf Grundsteine postmodernen Denkens bei Hannah Arendt: die Mikrophysik der Macht, die die Gesellschaft bis in ihrer feinsten Kapillaren durchdringt (Foucault), das Verschwinden des Volkes und seine phänomenale Auferstehung als marginalisierte Masse (Rancière), die Wiederbelebung agonaler Momente der postmodernen Demokratietheorie (Mouffe). Sie alle verweisen auf Arendts politisches Denken und lassen andere Formen seiner Vergegenwärtigung denkbar werden.<p> Nicht die Maßgabe der Antike, sondern das analytische Potenzial von Arendts Gesellschaftskritik steht zur Diskussion, wenn nach der Aufhebung der Entfremdung gefragt wird, die den Menschen von sich selbst und den Anderen distanziert. Wie Marx, aber mit gänzlich anderen Implikationen, setzt Arendt hier auf Politik, auf das In-Erscheinung-Treten in der Welt und die Auseinandersetzung mit den Anderen. Hier - im Zwischenraum des inter homines esse - erschaffen sich die Menschen ihr Selbst, stiften ihre Gemeinschaft, kreieren ihre Welt (vgl. VA 64). Es geht um die Wiederherstellung des mundanen Erscheinungsraums. Ihr stellt sich Hannah Arendt noch einmal am Ende ihres Schaffens. In der Schrift Macht und Gewalt (1970) werden Flüchtigkeit und Fragilität des öffentlichen Raums geradezu als Chance auf Wiederbelebung interpretiert: Hier beschäftigt sich Arendt mit der Generierung richtig verstandener politischer Macht, die sich durch einen manichäischen Gegensatz zur Gewalt auszeichnet. Auf den ersten Blick scheint dies denkbar einfach: Wenn Menschen an einem Ort zusammen kommen, um miteinander zu handeln, entsteht eine Macht, die sich den starren Regeln des politischen Systems verwehrt und das Politische in seiner genuinen Form zum Erscheinen bringt (vgl. MG 52f.). Doch Leichtigkeit und Reinheit eines Handelns, das nur an sich selbst interessiert ist, sind nicht einfach zu haben. Schließlich wird das acting in concert von enormer Fragilitität bedroht. Doch so fragil solches Handeln auch sein mag, auf immer zerstört werden kann es nicht. In dieser Gewissheit findet Hannah Arendt den neuralgischen Punkt, der nostalgische Erinnerung und konservative Resignation verbietet. Solange es Menschen gibt, dringt mit ihnen die Möglichkeit des Neubeginnens, des erneuten Handelns in die Welt ein. Mit diesem Akt soll und kann kein Verlust rückgängig gemacht werden. Vielmehr setzt er den radikalen Neuanfang. An diesem Akt initialer Radikalität entzündet sich die Hoffnung auf eine Wiederbelebung des Politischen. Damit will Arendt den Gefahren der Moderne begegnen.<p> Selbst in finsteren Zeiten bleibt für Arendt ein Funken Hoffnung erhalten: Menschliche Freiheit mag unter totalitärer Herrschaft zum Verschwinden gebracht werden, allerdings lauert sie noch irgendwo - irgendwo in der Welt, in jedem einzelnen Menschen, in der Möglichkeit des Neuanfangs. Jede Geburt manifestiert die Möglichkeit, neu zu beginnen und spendet so Hoffnung noch in den dunkelsten aller Zeiten. Jeder Mensch trägt diese Initiativkraft in sich: Durch seine erste Geburt wird er zur Welt gebracht, mit seiner zweiten Geburt tritt er in der Welt in Erscheinung (vgl. VA 216f.). Auf diese Weise schaltet sich jedes Individuum in die Welt ein und wird ein Teil von ihr. In diesem Moment hat das Politische seinen Ort gefunden - einen Raum, der durch das narrativ-performative Gewebe konstituiert wird und so die Generationen nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich miteinander verbindet.<p> Zeit und Welt - Der Anfang im Handeln, Wollen und Urteilen<p> "[Initium] ergo ut esset, creatus est homo, ante quem nullus fuit - damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, vor dem es niemand gab" (VA 215f.). So lautet der zentrale Satz zum Neuanfang in der Vita activa. Damit trägt Arendts frühe Augustinus-Lektüre Früchte. Zugleich bringt sie ihre politische Anthropologie gegen die Heideggersche Daseinsanalytik und das Sein zum Tode in Stellung. Arendt will nicht im Ende, sondern im Anfang die Grundbedingung der menschlichen Existenz entdecken. Jeder einzelne Mensch ist kraft seiner Geburt dazu befähigt, etwas völlig Neues zu beginnen. Ohne dieses Vermögen zum Neuanfang verlöre die gesamte Handlungstheorie ihren Sinn. Wenn das Wunder des Neuanfangs (vgl. VA 316f.) nicht immer wieder die zyklische Monotonie des Arbeitens durchbräche, blieben die Menschen zur ständigen Wiederholung immer gleicher Abläufe verdammt. Jede Art von Innovation und Spontaneität wäre per se ausgeschlossen - das Handeln im öffentlichen Raum nicht ohne Weiteres denkbar. Arendt macht deutlich, dass den Tätigkeitsformen des Arbeitens und Handelns unterschiedliche Zeitmodelle zugrunde liegen: Arbeiten ist zyklisch verfasst und kennzeichnet sich durch seine Nähe zum biologischen Kreislauf von Geburt und Tod, von Entstehen und Vergehen - im "ungeheuren Kreislauf der Natur selbst, die Anfang und Ende nicht kennt und in der alle natürlichen Dinge schwingen in unwandelbarer, todloser Wiederkehr" (VA 115). In solch naturhafter Dynamik ist für menschliches Handeln kein Raum. Erst durch das Handeln erschaffen die Menschen das Zwischen, in dem sie einander begegnen können. Das Handeln bricht mit dem zyklischen Rhythmus des nackten Lebens und konstituiert eine lineare menschliche Existenz (vgl. VA 115f.). Entscheidend ist nicht mehr der Kreislauf von Geburt und Tod, sondern vielmehr das, was sich zwischen Geburt und Tod ereignet und was den Einzelnen zum unverwechselbaren Akteur im "Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten" (VA 222) macht.<p> Wie prominent und folgenreich die Idee des Neuanfangs für Arendt ist, zeigt sich auch in anderen Zusammenhängen des Gesamtwerks. Bereits in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bringt Arendt das Augustinische initium ergo ut esset in Erinnerung, und zwar am Schluss der Untersuchung. Auch angesichts der Schrecken der nationalsozialistischen Terrorherrschaft will die Autorin nicht in endgültige Resignation verfallen. Vielmehr setzt sie auf das menschliche Vermögen des Neubeginns - nicht als Prinzip Hoffnung (E. Bloch), aber doch als Hoffnungsschimmer, der bereits aus Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft in die Vita activa hinüberleuchtet. Auch nach der Veröffentlichung der Vita activa bleibt der Gedanke des Neuanfangs lebendig. In der Schrift Über die Revolution (1963) erhält er konkretere politische Bedeutung, als Kontrapunkt zur unvermeidlichen Erosion des Politischen. Hier betont Arendt, dass jede politische Verfassung so lange uneingeschränkte Autorität genießt, "als dies Ereignis, der Akt des Neuanfangs selbst, nicht in Vergessenheit gerät" (ÜR 263). Und selbst in ihrem wohl kontroversesten Werk Eichmann in Jerusalem findet sich eine Reminiszenz an den Neuanfang: "Einer wird immer bleiben, um die Geschichte zu erzählen" (EJ 346).<p> Bei aller Bedeutung, die Arendt dem Neuanfang zuschreibt: Auch ihr ist klar, dass der Neuanfang aufgrund seiner eigenen Natur stets fragil und gefährdet ist. Mit welchen Mitteln, mit welcher Einhegung aber ließe sich dieser Fragilität begegnen? In Vita activa nennt Arendt zwei zeitlich strukturierte Heilmittel: Verzeihen und Versprechen richten sich in besonde-rer Weise auf Vergangenheit und Zukunft. Während das Verzeihen der Unwiderruflichkeit des Handelns ihre Schärfe nehmen soll, soll das Ver-sprechen die Unabsehbarkeit, die "chaotische Ungewissheit alles Zukünf-tigen" (VA 301), berechenbarer machen. Damit lässt sich, wie Arendt zu verstehen gibt, einiges, aber längst nicht alles heilen. Wenn zusammen mit der Welt auch der öffentliche Raum in sich zusammenbricht, erweisen sich alle zeitlichen Versuche zur Revitalisierung als vergebens (vgl. VA 310). Dann mündet das Versprechen des politischen Gemeinwesens in die totalitäre Vereinzelung und als deren unverzeihliche Extremform in die "Fabrikation der Leichen" (IWV 62) in den Konzentrationslagern.<p> Anders als das Verzeihen, das erst am Eindringen des Totalitarismus scheitert, bleibt das Versprechen selbst unter den Bedingungen der intak-ten Mitwelt prekär. Denn für Arendt steht außer Frage, dass kein Mensch sein Handeln vollständig berechnen oder vorhersehen kann. Kein Mensch kann mit völliger Sicherheit sagen, "wer [er] morgen sein wird" (VA 311). Das Versprechen markiert deshalb lediglich "Inseln des Voraussehbaren" (VA 313). Es kann als "Wegweiser in ein noch unbekanntes und unbe-gangenes Gebiet" (VA 313) dienen. An diesen Stellen tritt die Spannung deutlich hervor, die der Neuanfang konstituiert: Einerseits dokumentiert er den fragilen und riskanten Charakter der menschlichen Existenz - er ist immer ein Wagnis. Wer handelt, weiß nicht, worauf er sich einlässt. Andererseits ist der Neuanfang unbedingt nötig, um die Gestaltung der Zukunft nicht unpolitischen Kräften zu überlassen.<p> Es ist deutlich geworden, dass das politische Handeln, also die wichtigste Tätigkeit der Vita activa, nicht nur im Raum beheimatet ist, den die Handelnden gemeinsam performativ hervorbringen, sondern dass das Handeln in entscheidendem Maße auch durch die Zeitlichkeit bestimmt ist. Wie wichtig die Denkform der Zeit ist, zeigt sich insbesondere, wenn wir uns den geistigen Tätigkeiten zuwenden, die Arendt in ihrem Spätwerk thematisiert. Auch hier ist Augustinus als Ideengeber stets präsent: Schon in Arendts frühster Schrift Der Liebesbegriff bei Augustinus spielen Begriffe wie Vergänglichkeit, Ewigkeit und Zeit eine wichtige Rolle. Diese Begriffe feiern im ersten Band von Vom Leben des Geistes (Das Denken) eine späte Renaissance. Hier verweist Arendt auf Augustinus' Bild vom "Bauch des Gedächtnisses" (LG I 197), aus dem man Vergangenes herausholen und in die Gegenwart transportieren kann. Anschließend setzt sie sich ausgiebig mit der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft (vgl. ZVZ 7ff.) auseinander.<p> Noch gegenwärtiger zeigt sich das Konzept der Zeitlichkeit im zweiten Band Das Wollen, der direkt auf diesen Überlegungen aufbaut. Wenn Arendt den Zusammenhang zwischen Zeit und geistigen Tätigkeiten (LG II 250-258) thematisiert, bezieht sie sich bereits am Anfang des Werkes wieder auf das Augustinische initium-Zitat (LG II 257). In der Mitte des Buches beklagt Arendt, Augustinus habe die logischen Konsequenzen aus der Initiativkraft der Menschen nicht gezogen und den Menschen weiter-hin als Sterblichen, und nicht wesentlich als Geborenen definiert (vgl. LG II 343). Am Ende des Buches kommt Arendt schließlich auf die zeitlich-politischen Auswirkungen des initiums zu sprechen: die Geburt als der "Eintritt eines neuen Geschöpfs, das mitten im Zeitkontinuum der Welt als etwas völlig Neues erscheine" (LG II 442). Damit schließt sich der Kreis; diese Überlegungen sollten den Schlusspunkt von Arendts Werk bilden. Obwohl sich im Projekt der Urteilskraft die Denkformen von Raum und Zeit gleichberechtigt begegnen, fokussiert die Forschung einseitig auf die Kategorie des Raumes. Übersehen wird dabei, dass die Denkform der Zeit als geheime Klammer um das Gesamtwerk verstanden werden kann: von der Dissertation über die Schriften zur politischen Handlungstheorie bis zum unvollendeten Werk über die Urteilskraft. Raum und Zeit können bei Arendt nicht unabhängig voneinander gedacht werden. Besonders gut erkennt man dies in den Ausführungen zur Urteilskraft - so vorläufig diese auch bleiben müssen.<p> Gegenwärtigkeit - Handeln in Raum und Zeit<p> Die kanonische Lektüre der Vita activa lässt politisches Handeln als exzellente Tätigkeit des Menschen erkennbar werden, die sich allein in einem vom Zwang der Arbeit und des Herstellens befreiten Raum aktu-alisiert. Wie die Aristotelische polis von keinen Mauern begrenzt wird, so hat der politische Raum bei Arendt keine fixen Grenzen und onto-logischen Wegmarken. Vielmehr entsteht er im Zwischen und nimmt die Form eines "Bezugsgewebe[s]" (VA 222) an. Anders als der genuin politischen Tätigkeit des Handelns ermangelt es den geistigen Tätigkeiten, dem Denken und Wollen, an solchem Zwischen. Sie sind immer die Angelegenheit eines Einzelnen. Als Subjekt des Denkens kommen für Arendt nicht die Menschen, sondern lediglich der Mensch in Betracht: Man, not men. Als Denkende können Menschen zwar einen Ort haben, aber niemals den Raum erfüllen. Ob dieser Befund auch gelten würde, wenn das Leben des Geistes um das Urteilen als dritte Ausdrucksform erweitert worden wäre, lässt sich nur spekulativ beantworten. Liest man Arendts Grundintention aus den überlieferten Kant-Vorlesungen heraus, so wird der Versuch erkennbar, letztendlich auch den geistigen Tätigkeiten einen Raum zu geben. Dabei könnte die Erweiterung des Zwischenraums mit Blick auf die geistigen Tätigkeiten konstruktiv gewendet werden. Raum und Zeit könnten somit in neuer Weise zusammen gedacht werden.<p> In der Vorlesung Über Kants Politische Philosophie stellt Arendt fest, dass die Abhängigkeit von den Mitmenschen, die der Mensch im Handeln er-fährt, auch im Bereich der geistigen Tätigkeiten relevant wird (vgl. U 26). Anders als für das einsame Denken ist für das Urteilen die menschliche Pluralität bedeutsam (vgl. U 32). Allerdings nimmt diese Pluralität nicht die Gestalt des acting together an. Hier geht es um die Pluralität der Zuschauer, zwischen denen sich ebenfalls ein Raum aufspannt, der "potentiell öffentlich" (U 60) ist. Die überschaubaren Grenzen, in denen politisches Handeln möglich ist, werden im Urteilen überschritten. Zudem erweitert sich durch die Fähigkeit der Einbildungskraft, die im Urteilen wirksam wird, der Raum um die zeitliche Ebene. Die "Besuche" (U 61) der Einbildungskraft transzendieren die für politisches Handeln relevanten Raum- und Zeitstrukturen. Sie können auf anderen Kontinenten und in unterschiedlichen Epochen stattfinden. Räumlich und zeitlich Abwesendes kann durch diese Besuche gegenwärtig gemacht werden (vgl. U 87).<p> Mit dem Begriff der Gegenwärtigkeit wird bei Arendt die Gleichursprünglichkeit von Raum und Zeit sichtbar, wodurch sich Handeln und Denken in ein äquidistantes Verhältnis bringen lassen. Aus vermeintlichen Antagonisten werden im Begriff der Gegenwärtigkeit Verbündete. Handeln findet immer im flüchtigen Moment der Gegenwart statt, es ist eine Form von Vergegenwärtigung. Um zu handeln, muss man sich dem Status quo kritisch stellen, sich die politische Konstellation vergegenwärtigen. Wenn der Handelnde jedoch unüberlegt in den öffentlichen Raum stößt, ist das für das politische Leben ebenso ruinös wie ein Denkender, der sich dem Handeln verweigert. Wenn das Denken raumlos bleibt, verschlossen im Dunkel des Elfenbeinturms, dann entbehrt das Handeln der Überlegtheit. In der Urteilskraft dagegen verbinden sich Handeln und Denken.<p> Es ist keineswegs zufällig, dass Arendt ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ein Zitat ihres Lehrers und Mentors Karl Jaspers voranstellt. Es verweist auf die doppelte Bedeutung des Begriffs der Gegenwärtigkeit: "Weder dem Vergangenen anheim fallen noch dem Zukünftigen. Es kommt darauf an, ganz gegenwärtig zu sein" (EUT 5). Hier wird gleichermaßen an die räumliche und an die zeitliche Kompo-nente, das performative und das denkerische Motiv erinnert: Gegenwär-tigsein bezieht sich auf denjenigen Moment in der Zeit, der sich zwischen Vergangenheit und Zukunft erstreckt und in dem allein das Handeln stattfindet. Gegenwärtigkeit wird zum Bewusstsein. Solches Bewusstsein bildet sich zunächst in der inneren Zitadelle des Selbst, das im Denken seine Überzeugungen erwirbt und damit den Grundstein für politisches Handeln und Urteilen legt. Als bloßes Bewusstsein bleibt es stumm und blind ohne die Anderen. Erst in Auseinandersetzung mit ihnen kann das Selbst sein Bewusstsein schärfen, seine Urteile überprüfen und gegebenenfalls korrigieren. Damit das geschehen kann, bedarf es eines besonderen Ortes. Dieser Ort ist der Raum des Politischen.<p> So vereinen sich im Gegenwärtigsein gleichermaßen die Kategorien der Zeit und des Raums und die Motive des Denkens und Handelns. Schon in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zeigt uns Arendt, wie wichtig beide Kategorien für ihr politisches Denken sind. Wie eng sie tatsächlich zusammenhängen, zeigt ihr Spätwerk. Lässt man ihren Denkweg Revue passieren, erkennt man die Bewegung von der Pathologie des Nicht-Gegenwärtigen über die Revitalisierung des politischen Raumes hin zur Entdeckung des Orts des Denkens.<p> Liest man Hannah Arendt im Lichte der Gleichursprünglichkeit der Denkformen von Raum und Zeit, erschließt sich die geheime Kontinuität ihres ¼uvres. In diesem Sinne thematisieren die Beiträge zentrale Frage-stellungen und kontroverse Deutungen.Die ersten vier Beiträge spannen ein interpretatives Spektrum der Arendtschen Raumtheorie von ontologischen über konstruktivistische bis zu dekonstruktivistischen Mustern der Beschaffenheit des öffentlichen Raumes. Bekanntlich weist Arendt den drei Formen der vita activa - Arbeiten, Herstellen und Handeln - ihre jeweils spezifischen Orte zu und identifiziert sie mit einer entsprechenden Zeitform. Der Leichtfüßigkeit dieser Zuordnung widmet sich zunächst die Aufmerksamkeit des Sammelbandes. Der Beitrag "Die republikanische Klaustrophobie. Politischer Raum bei Hannah Arendt" von Karlfriedrich Herb thematisiert Arendts Engführung politischen Handelns und zeigt die Aporien ihres politischen Reinheitsgebots auf. Tobias Maier nimmt "Zur Frage Was ist Politik? - Heideggers Erbe bei Arendt und Lefort" Stellung. Dabei macht er die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen fruchtbar, um Arendts horizontales Politikverständnis Leforts vertikalem Politikverständnis gegenüberzustellen. Hans-Jörg Sigwart vermisst in seinem Beitrag "die Grenzen des Politischen". In der Lehre vom politischen Raum sieht er Arendt als Phänomenologin am Werk. Fernab jeder Ontologie lässt sie den politischen Raum und seine Grenzen als intersubjektive Konstruktion erkennbar werden. Zur Problematik der Verknüpfung von Raum und Handeln gehört auch das Schweigen, in das sich Arendt in Fragen zu Leiblichkeit und Sexualität hüllt. Dieses reflexive Manko nimmt Magdalena Scherl mit ihrem Beitrag "Zwischen Abgrenzung und Entgrenzung. Feministische Lesarten des öffentlichen Raums bei Arendt" in den Blick.<p> Auf die Verbindung von Raum und Zeit fokussiert Ole Meinefelds Bei-trag "Von der Zeitlichkeit zum öffentlichen Raum. Politik als Sorge um die Welt", der die Verräumlichung des Begriffs der Sorge rekonstruiert. Die narrative Dimension in Arendts Werk beleuchtet Kathrin Morgenstern. Unter dem Titel "Ich will verstehen. Erzählen im Spannungsfeld von Amor mundi und Weltverlust" beschreibt sie das storytelling als weltkonstitu-tierende Tätigkeit, mit der Raum und Zeit gleichermaßen vermessen wer-den. Gerson Breas Beitrag "Lieben oder Verzeihen? Fluchtpunkte des Politischen" widmet sich den Grundvermögen Versprechen und Verzeihen, die in der argumentativen Chronologie der Vita activa erst spät in Erschei-nung treten. Im Rekurs auf Arendts Augustinus-Lektüre zeigt er die primordiale Zeitlichkeit dieser heilenden Handlungsformen auf. Auch Placidus Bernhard Heider widmet sich der Zeitvorstellung Arendts in der Nachfolge von Augustinus und begibt sich in seinem Beitrag auf die "Suche nach der unendlichen Zeit". Das Augustinische Lob des Anfangs fasziniert Arendt bereits in ihren philosophischen Lehrjahren; später wird sie darauf aufbauend das Grundprinzip der Natalität entwickeln.Erscheint der privilegierte Moment der Politik für Augustinus am Anfang der Zeit, so rückt ihn Kant an das Ende. Das Verhältnis von Kant und Arendt steht im Zentrum der Überlegungen von Linda Ana Sauer: "Welt ohne Geländer - Erweiterte Denkungsart und Urteilskraft bei Hannah Arendt im Anschluss an Immanuel Kant". Sie fragt, inwieweit sich Arendt auf der späten, durch das Politische geleiteten Suche nach dem Ort des Denkens an Kants Urteilstheorie orientiert. Nach dieser Fokussierung auf die Beziehung zwischen Arendt und dem modernen Denken eröffnet Mareike Gebhardt eine postmoderne Perspektive auf Arendts Denken. In ihrem Beitrag "Versprechen, Vergessen, Vereinsamen" diskutiert sie Arendts Umwertung der Position Nietzsches unter raumzeitlichen Bedingungen und entdeckt beide als "Denker politischer Zeitlichkeit".<p> Wie sehr die Klassiker des politischen Denkens mit sich selbst vertraut sind, wird keine politische Ideengeschichte klären können. Hannah Arendt, die große politische Denkerin des zwanzigsten Jahrhunderts, hat kein Geheimnis aus ihrem Unbehagen gegenüber der Philosophie gemacht. Bei den Philosophen jedenfalls sah sie das Nachdenken über Politik in denkbar schlechten Händen. Platons Traum von der Herrschaft der Philosophen sollte ihr zeitlebens ein Alptraum bleiben. Doch lassen wir Ressentiments auf sich beruhen. Die vorliegenden Beiträge nähren den Verdacht, dass Hannah Arendts Werk genügend Gründe liefert, den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Politik und Philosophie zu mildern. Nehmen wir sie beim Wort! Dann können wir uns Hannah Arendt als politische Philosophin vorstellen.<p> Literatur<p> Benhabib, Seyla (2006), Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Frankfurt/M.de Certeau, Michel (2006), "Praktiken im Raum", in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M., S. 343-353. Foucault, Michel (1994), Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frank-furt/M.Kateb, George (1984), Hannah Arendt. Politics, Conscience, Evil, Totowa, NJ 1984.Lefebvre, Henri (2006), "Die Produktion des Raums", in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwis-senschaften. Frankfurt/M., S. 330-342.Mouffe, Chantal (2007), Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frank-furt/M.Passerin d'Entrèves, Maurizio (1994), The Political Philosophy of Hannah Arendt, London/New York. Rancière, Jacques (2002), Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M.Weissberg, Liane (2011), Affinität wider Willen? Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule, Frankfurt/M., New York.