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Die 12 Leidensstationen nach Pasing

Roman
ISBN/EAN: 9783981729580
Umbreit-Nr.: 6132569

Sprache: Deutsch
Umfang: 288 S.
Format in cm: 2.2 x 19.5 x 12.8
Einband: kartoniertes Buch

Erschienen am 18.03.2025
€ 20,00
(inklusive MwSt.)
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  • Zusatztext
    • Sommer 1985. Die Kajal-Clique hält die Welt in Atem. Zumindest die Münchner Vorstadt Pasing, in der die vier jungen Schüler durch die Straßen streunen und die Gegend unsicher machen. Stets bewaffnet mit alkoholischen Getränken, verehren sie abgöttisch New-Wave-Bands wie The Cure, Aztec Camera und The Human League und sind rund um die Uhr auf der Suche nach 'der Party' und dem ersten Sex. Denn die Zeiten lassen einiges zu wünschen übrig: Ihre Mitschülerinnen reagieren auf die Avancen der Clique mit neurotischem Wahnwitz, und auch die Schlägerbande rund um den Psychopathen Lothar macht den vier Rebellen das Leben schwer. Erst als Baby Love aus dem benachbarten Mädchen-Gymnasium in Pasing auf den Plan tritt, gewinnen die Dinge an Rasanz. Alle Werke von Stefan Wimmer schnell und signiert (!) direkt bestellen: auslieferung@blond-verlag.de
  • Leseprobe
    • 'Cunnilingus, Erich!' Es war Sommer, ein unglaublich heißer Sommer - ein Sommer, wie es ihn heute in der Form kaum mehr gibt. Es war Sommer, und die Sonne brannte so heftig auf Pasing herab, dass der Asphalt der Gleichmannstraße fast Blasen warf, und die Seen zwischen Allacher Lohe und Lochhausen blubberten wie in einem schlechten japanischen Science-Fiction-Film. Es war der wahrscheinlich heißeste Sommer, den ich mit meinen bisherigen fünfzehn Jahren erlebt hatte. Wir schrieben das Jahr 1985, Ronald Reagan versuchte Nicaragua platt zu machen, Kohl war der gewählte Kanzler Deutschlands, und ich trug täglich verwilderte, wasserstoffgefärbte Zottel-Haare, Kajal-Schminke, Roboterstiefel und eine finstere, schwarze Kutte, deren V-Ausschnitt durch die Sonne in meinen bleichen Hungerkörper förmlich eingebrannt stand. Die Vormittage dieses Sommers verbrachten wir auf den harten, heruntergekommenen Holzstühlen des Pasinger Karlsgymnasiums, und an einem dieser strahlend blauen Tage des Monats Juni lauschten wir fläzend dem Griechisch-Unterricht, wir, die 10 c, The Home of The Brave and Beautiful. Auf dem Platz neben mir saß mein Freund Roderick, der Abenteuerlustigste unseres Jahrgangs, ein Jahr älter als ich, aber viel kleiner - breite Knochenwülste über den blonden Augenbrauen, dazwischen eine dicke, knollige Nase, die an fernöstliche Dämonenmasken erinnerte. Verwirrt fuhr er sich durch seine geltriefenden Haare, die ihm wie Kraut und Rüben vom Kopf abstanden, lauschte auf seinem Walkman einem Extended Mix von Fad Gadget und machte ein betont fragendes Gesicht. Schräg vor mir saßen weitere Mitschüler: Markus Blacha, den sie den 'harten Arbeiter' nannten (mehr dazu später), das Gesicht feist und mürrisch, daneben Walter Festl, der mal wieder einen seiner 'Dämonen-Pullunder' trug (blutrot kombiniert mit dottergelb). Eine Bank weiter: Astrid von Gruithuisen, die wir 'Heiner von Holland' nannten, dann Anne Römer, Urania Muschiol und Philomena Sass, die drei Popperinnen der Klasse. Rechter Hand: das Triumvirat Kuhlbrook-Sanders-Hillewick (bekannt unter den Namen 'Raketengott', 'Kraftei' und 'Flugkreisel', weil alle drei nach dem Abitur eine leitende Position bei EADS anstrebten). Und dann war da noch Miriam Scharlach, die Klassensprecherin - eine Kategorie für sich! -, sowie zehn weitere, weniger individualisierte Zeitgenossen. Vor uns am Pult: Dr. Korbinianus Bärbichler - ein Tusch für unseren unvergleichlichen Konrektor, Griechisch- und Lateinlehrer! Von allen nervenaufreibenden Lehrern an der Schule war er der kompromissloseste. Bärbichler hatte eine extrem dunkle, sonnengeröstete Haut, und sah mit seinen struppigen Augenbrauen und dem pechschwarzen Zwirbelbart aus wie ein bulgarischer Feudalherr. Er wohnte in einer Villa am Ammersee und tat immer so, als ob er der bayerischste aller Bayern sei, doch irgendwie nahmen wir ihm dieses Tamtam nicht ab. Freilich, es konnte in der Tat sein, dass er in Bayern geboren war und sein dunkler Teint lediglich von irgendwelchen, einst nach Bayern eingedrungenen römischen Legionären herstammte. Genauso gut konnte es aber sein, dass er tatsächlich Bulgare war und einfach zwanzig Jahre lang den Sprachkursus 'Wie gelange ich zur perfekten Nachahmung eines Bayern?' belegt hatte. In diesen Kursen musste ihm auch seine gängigste Marotte beigebracht worden sein: Der ständige Wechsel zwischen überspannter Fröhlichkeit und Grant, der ständige Umschlag, das ständige Wechselbad, wie sich jetzt wieder zeigte1: Mit zuckendem Schnurrbart und finster gerunzelten Augenbrauen wartete er ungeduldig auf den Übersetzungsversuch eines kleingewachsenen, lernschwachen Schülers namens Martin Zwenger, der sich haspelnd durch den Text quälte:'Nämlich. nicht. ich erkenne. sein', flüsterte Martin kaum hörbar, doch Bärbichler grätschte vorwarnungslos in Martins Versuche hinein und schrie: 'NAAAAA, Martin! Ta eoonta.! Ta eoonta.! Augen aufmachen, bevor ma an Schmarrn übersetzt!' Der zarte Martin brach unter der Last der Rüge zusammen und stellte aus Angst jeden weiteren Übersetzungsversuch ein. Dafür sprang nun Astrid von Gruithuisen auf, meldete sich forsch - ob aus Verblendung oder Mut, wussten wir nicht - und übersetzte mit ihrer rechtsrheinischen Stimme einen genauso wirren Nonsens wie Martin Zwenger, doch Bärbichler war sofort wie verwandelt: 'Jaaaa, GENAU, Astrid!', jauchzte er. 'Schlau kombiniert! Ta eoonta! So komma mir der Sach scho wesentlich näher!' Nun meldete sich auch Holger Hillewick, friesisch und kühl (70 Prozent unserer Klasse waren zugezogen aus den verschiedensten Bundesländern), wollte auf der Welle der Gunst mitreiten und übersetzte etwas geringfügig weniger Schwachsinniges als Heiner von Holland, doch Bärbichler hatte bereits den nächsten Stimmungsumschwung erlitten und herrschte Holger an: 'Ta eoonta, Holger! Partizip! Erst nachdenken, bevor ma an Mund aufmacht! Muaß ma denn immer glei ois nausplappern, wos oam durch n Kopf durchgäht!' Die Uhr an der Wand zeigte jetzt 12:59, der anhebende Lärm signalisierte Bärbichler, dass seine Macht dem Ende zuging. Er legte die Tusculum-Ausgabe beiseite und ließ seinen Blick streng über die Klasse wandern: 'Komma oiso song.', resümierte er und strich sich genießerisch über den Bart, 'dass diese Parmenides-Stelle semantisch stark missverständlich is?' Die Mitschüler packten hektisch ihre Schulsachen zusammen und kümmerten sich nicht weiter um 'ta eoonta' und Partizip. Bärbichler schloss knapp: 'Wohl eher nicht!' Auch das war eine seiner typischen Anwandlungen: Am laufenden Band Fragen zu stellen, die nach einem vernünftigen 'Ja!' verlangten, um sie sich dann jedes Mal mit einem herausgegrunzten 'Wohl eher nicht!' selbst zu beantworten. Die Glocke erlöste uns, wir schossen hoch, das wars! Ich griff die mit Band-Namen wie The Cure, The Human League und Aztec Camera beschmierte lederne Aktenmappe meines Vaters, schwang sie mir fahrig über meine dürren Schultern und ging nach draußen. Neben mir stapfte mein Kumpan Roderick, warf seine wirren Haare provokant nach hinten, flippte eine MS Blu aus seiner Zigarettenschachtel und steckte sie sich in den Mund. Wenn Roderick eine MS Blu zum Mund führte, dann wusste man: Jetzt beginnt der angenehme Teil des Tages, der Ruf der Wildnis, die uneingeschränkte Herrschaft des PPP. Draußen auf der Schultreppe mischten sich die diversen Jahrgangsstufen und Klassen wie Wasserfälle: Die Hippies der 13. Klasse mit ihren bestickten Batikwestchen und den Angelo-Branduardi-Haaren. Die bildhübschen Mädchen der Zwölften mit ihrem Lacoste-Tennis-Style. Und die völlig aus der Art geschlagenen Holzhackertypen der Elften, die vor kurzem alle geschlossen der Jungen Union beigetreten waren. Auf den knarzenden Stufen überholten uns hektisch Kuhlbrook, Sanders und Hillewick, schnurstracks zum Würstelstand des Pedells Elender eilend, um sich dort mit Chio-Chips zu versorgen (ihr Insider-Gag lautete, immer wieder zu feixen: 'Glockenschlag / Chio-Chips-Tag!') Doch Roderick und mich gelüstete es nach etwas anderem als Chio-Chips. Wir gingen zum Parkplatz und suchten nach unseren Fahrrädern. Wir beide wussten, was das Ziel war.