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Nachhilfe
eBook
ISBN/EAN: 9783961271986
Umbreit-Nr.: 8927287
Sprache:
Deutsch
Umfang: 275 S., 1.02 MB
Format in cm:
Einband:
Keine Angabe
Erschienen am 07.03.2020
Auflage: 1/2020
E-Book
Format: EPUB
DRM: Nicht vorhanden
€ 3,99
(inklusive MwSt.)
Sofort Lieferbar
- Zusatztext
- Sophies Leben ist an einem Tiefpunkt angelangt.Doch für Unbeteiligte fühlt es sich wie ein Leben im Bilderbuch an, wären da nicht die Probleme, die man von außen nicht sieht:Da sind ihre Eltern, die weder Zeit noch Verständnis für sie haben und deren Ehe auseinanderzudriften scheint.Da ist der Unfalltod ihres Großvaters, der in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielte. Auch in der Schule klappt nichts mehr. Ihre Leistungen sind mehr als bedenklich.Ihre beste Freundin Maike, die auch Klassenbeste ist, darf ihr wegen ihrer sozialen Herkunft nicht helfen. So schickt sie ihr Vater zu einem Nachhilfelehrer, der aber nicht nur mit ihr Französisch lernen will und auch nicht nur zweideutige Bemerkungen macht.Als sie sich deshalb hilfesuchend an ihre Eltern wendet, wird sie barsch abgewiesen. Irgendwann weiß sie nicht mehr weiter.Alles scheint ausweglos.Ein Sturz mit dem Fahrrad bringt für Sophie nicht nur Schürfwunden. Durch Moritz schmeckt ihr Leben für kurze Momente immer wieder nach Glück und Stracciatella Eis, bis sich Angst und Scham von Neuem wie Zecken auf der Haut festkrallen.Hält eine Freundschaft auch dann, wenn sie plötzlich auf eine harte Probe gestellt wird?Nachhilfe ist ein Roman über übergriffiges Verhalten, Macht und Ohnmacht, aber auch über Freundschaft und Liebe so weich wie das Fell eines Hundebabys.
- Kurztext
- Sophies Leben ist an einem Tiefpunkt angelangt.Doch für Unbeteiligte fühlt es sich wie ein Leben im Bilderbuch an, wären da nicht die Probleme, die man von außen nicht sieht:Da sind ihre Eltern, die weder Zeit noch Verständnis für sie haben und deren Ehe auseinanderzudriften scheint.Da ist der Unfalltod ihres Großvaters, der in ihrem Leben ...
- Leseprobe
- Was soll das?, fragt eine Stimme in mir. Trotzdem radle ich weiter wie eine Blöde. Ich weiß nur, dass ich hin muss. Und dann? Keine Ahnung. Irgendwie treibt mich eine unbekannte Kraft voran. Nur weg, weg. Ich trete in die Pedale, verbissen wie ewig nicht mehr. Solange ich fahre ist alles besser. Bewegung setzt Gedanken frei. Das bilde ich mir wenigstens ein. Ich will zu seinem Boot, einfach so. Nein, nicht einfach so. Ich muss. In mir ist alles aufgewühlt. Ich brauche einen Ort, an dem ich zur Ruhe komme, an dem ich ihm nahe bin.Die ganzen Monate fehlte mir der Mut, mich seinem Boot zu nähern. Heute fahre ich hin. So schnell, als käme ich zu spät zur Verabredung auf der vereinsamten Eya-Eya. Ich atme schnell. Es sticht in meinen Bronchien.Es ist, als erinnere sich mein Fahrrad automatisch an den Weg, den es so oft mit mir gefahren ist. Zum Platz am See, an dem ich geborgen bin. So stelle ich es mir zumindest vor.Zu Hause? Streit oder beklemmendes Schweigen. Sonst nichts. Ich würde sagen, das Schweigen ist schlimmer. Keiner meiner Eltern will wissen, was ich im Herzen mit mir rumschleppe. Es ist schwer zu ertragen, sich zu fühlen, als wäre man überhaupt nicht da. Unsichtbar. Nichtbeachtung tut weh. Ist so schmerzhaft wie Schläge. Warum ist das so gekommen? Durch meinen Kopf schwirren viele unbeantwortete Fragen.Wie schnell muss ich fahren, um die Stimmen in mir endlich zum Schweigen zu bringen? Ich kann das Band nicht stoppen. Das läuft und läuft. Dauermodus.Es gibt Menschen, die immer wissen, was sie tun müssen und wo es lang geht. Ich habe keine Ahnung, wo und wie es bei mir lang gehen soll. Nicht mehr. Seit dem Anruf im letzten Oktober überhaupt nicht mehr. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre im selben Auto gesessen. Ich höre ihn sagen: Man muss sich nur ein paar Schritte vom Problem entfernen, schon wird alles einfacher. Nur ein paar Schritte? Aber wie groß müssen die denn sein?Sein Boot liegt in einem Clubgelände am See. Es ist ein kleiner Segelverein, aber mit einem großen Blick zum See, zum Schloss und auf die Stadt, in der ich so gern lebe. Auf dem Gelände stehen alte Buchen. Am Seeufer sind es viele Weiden, die gebückt wie alte, abgerackerte Frauen in den See schauen, als wollten sie unter Wasser nach etwas suchen. Am Rand des Grundstücks beginnt ein sumpfiges Gelände. Es ist nicht zu bebauen und deshalb Rückzugsgebiet für allerlei Tiere. Im Sommer gibt es hier leider auch jede Menge Mücken. Aber noch ist nicht Sommer. An warmen Tagen kommen viele Leute an den See. Und heute ist so ein warmer Tag. Jogger, Skater, Radfahrer, Spaziergänger, die halbe Stadt ist scheinbar gerade auf dem Franzosenweg unterwegs.Die alten Buchen haben ihre Wurzeln wie dicke Schläuche unter den geteerten Weg geschoben und schon so manchen Skater in Schwierigkeiten gebracht.Vor mir spaziert eine Frau mit einem schwarzweißen Mischlingshund an der Leine. Beide mitten auf der Straße. Das grelle, rot-gelbe Licht der Sonne blendet mich. Ich kneife die Augen zusammen, klingle und setze mit Speed zum Überholen an. Mensch, pass doch , höre ich eine Stimme, gleichzeitig ein schleifendes Bremsgeräusch und ich weiß nicht warum ich ziehe die Vorderbremse, segle vom Rad und lande im Gras neben dem Weg. Dann sehe ich erst einmal eine Menge kleiner Sterne über mir. Ich denke, dass mir gleich schwindlig wird. Und es wird mir schwindlig. Keine Ahnung, ob ich kurz ohnmächtig war oder nicht. Auf alle Fälle höre ich den Hund so laut bellen, dass ich ohnehin aus der tiefsten Ohnmacht gleich wieder aufgewacht wäre. Seine Besitzerin, die alte Frau, mit den viel zu roten Lippen, bellt auch. Etwas von: So eine Raserei,... Recht geschehen,... ohne Rücksicht,... diese jungen Dinger.... In die Wortfetzen hinein taucht über mir aus den Sternen immer deutlicher ein Gesicht auf. Ein Gesicht, umrahmt mit dunkelblonden Haaren.Alles okay?, fragt die Stimme. Was soll die Floskel? Will der nur höflich sein oder will er wirklich checken wie es mir geht? Nichts ist okay. Ich versuche aufzustehen.Alles okay, lüge ich und gebe mir Mühe, meine peinliche Situation zu überspielen. Mein Knie brennt und vom Ellenbogen tropft Blut ins Gras. Am liebsten würde ich laut losheulen. Reiß dich zusammen, ermahne ich mich stumm.Mensch, du warst ja wirklich mit einem Affenzahn unterwegs.Ich rapple mich auf. Ja, ich weiß, ich wollte schnell mal.... Weiter sage ich nichts. Sehr schnell sogar!, der Junge lacht. Wo wolltest du denn hin auf deinem Rad mit dem Schnellfahrgummi?Ich überhöre seine Frage. Einem Fremden, noch dazu einem Jungen, meine Verzweiflungsraserei zu erklären, das geht gar nicht. Auf keinen Fall. Und jetzt schon gar nicht. Obwohl ich gerade jetzt schon gerne jemanden gehabt hätte, dem ich meine Sorgen hätte erzählen können. Meine Knie zittern und der aufgeschürfte Arm schmerzt als er seine Hand nach mir ausstreckt und mich hochzieht. Gehts? Ich reibe mir das Knie. Ja, alles okay. Danke.Tut mir leid, dass ich im falschen Augenblick an der falschen Stelle war. Er weiß noch nicht, dass er genau im richtigen Moment gekommen ist. Jetzt sag doch, wo wolltest du in dem Affenzahn hin? Er gibt nicht auf.Weiß nicht, lüge ich ein zweites Mal und spüre meinen trockenen Mund. So, so., er lacht. Aber jetzt brauchst du erst einmal ein paar Pflaster für deine Verletzungen. Komm, wir fahren zurück in Richtung Stadt und besorgen etwas in der Drogerie.Nicht nötig, sage ich. Ich kehr` sowieso um und dann bin ich auch gleich zu Hause. Mensch, der tut ja so, als wäre er mein Kindermädchen, denke ich. Mit einem kurzen Na, denn Tschüss will ich los. Als ich auf das Rad steige, merke ich, wie mein Knie schmerzt. Fahren geht nicht, wirklich nicht. Warum habe ich auch bloß heute die Bermudas angezogen? Aha, musst doch besser schieben, stellt er fest. Wenn du willst, begleite ich dich, ich wollte sowieso in die Richtung. Und so ganz nebenbei streckt er mir ein Tempo entgegen. Erst starrt er mein Knie an, so als wolle er mit der Kraft seiner Gedanken die abgeschürfte Haut wieder heil machen. Dann schielt er mich von der Seite an. Ich sage nichts. Ich schäme mich. Es ist schon peinlich, wenn man so jämmerlich vor einem Typen steht. Will ich so dastehen? Wenn ich nichts sage, haut er ab, denke ich. Dann sagt er was. Moritz.Wie, Moritz? Ich stelle mich doof.Meine Güte, ich bin der Moritz und du, wie heißt du?Ich sage wieder nichts und drücke das Tempo auf die Verletzung am Ellbogen. Er bleibt hartnäckig wie mein Hund, wenn er ein Leckerli will. Lass mich raten? Pippi Langstrumpf, wegen der schönen roten Zöpfe?. Sehr witzig!, sage ich, verdrehe die Augen und ziehe die Augenbrauen hoch.Dann versuche ich es noch einmal mit dem Losfahren. Nein, fahren geht wirklich nicht, das Knie brennt wie blöd. Also schieben. Es ist mir furchtbar peinlich, halb lahm durch die Gegend zu humpeln. Und er? Er schiebt sein Rad knapp neben meinem her. Er hat es sich wohl zur Aufgabe gemacht, meinen leibhaftigen Schutzengel zu spielen. Eigentlich nett. Nein, fürsorglich sogar. Ein Jogger dreht sich im Vorbeilaufen um und lächelt. Kinder vom nahegelegenen Kindergarten, Hand in Hand in Zweierreihen, kommen uns schnatternd entgegen. Wortfetzen über Wortfetzen aus ihren kleinen Mündern, sinnvolle Zusammenhänge kann ich daraus nicht reimen. Am Himmel ziehen ein paar weiße Wolken wie Wattebäusche im Konvoi vorbei, zielgerichtet, als hätten sie im Osten einen Termin. Der Spätfrühling fühlt sich sommerlich an. Wir schieben an einigen Bänken am Ufer des Sees vorbei. Auf einer sitzt ein jüngerer Mann in Malermontur. Neben ihm sitzt wie ein schwarzer Hund sein Rucksack, davor eine Flasche Bier.Der sitzt jeden Morgen, wenn ich zur Schule fahre, auch hier, sagt Moritz. Interessant. Ich tue als, würde mich sein Geschwätz nicht tangieren. Aber meine Stimme klingt nicht einmal halb so schnippisch, wie ich es vorgehabt habe. Die Augen verdrehe ich diesmal auch nicht.Das ist nicht interessant, das ist traurig.Wie, traurig? Ich habe ganz vergessen, dass ich unser Gespräch nicht vertiefen wollte.Traurig eben. Der hat keine Arbeit und fährt trotzdem jeden Morgen zur Arbeit. Aha. Ich gebe mich unbeeindruckt, obwohl ich es bemerkenswert finde, dass ein Junge so viel Einfühlungsvermögen hat. Ich bleibe kurz stehen und tupfe nochmals erst meinen Ellenbogen und dann das Knie mit dem Tempo ab. Beim Aufrichten schaue ich zur Seite und betrachte mir den Knaben aus den Augenwinkeln genauer. Siebzehn, plus, taxiere ich. Groß, schlank, dunkelblonde Haare. Ich mag große, schlanke Jungs mit dunkelblonden Haaren.Du hast ja noch den halben Rasen an deinem Lenker.Er grinst und popelt die Moosteilchen weg. Ich nicke. Er grinst wieder. Blödmann. Ich werde rot, bis hinter die Zöpfe, die sind ja schon rot. Es ist unangenehm, wenn man weiß, dass man bei der kleinsten Kleinigkeit rot wird. Es ist schon gemein, wie wenig unser Körper manche Emotionen verheimlicht. Bei mir ist es wenigstens so. Kaum spüre ich eine Gefühlsbewegung, schon steigt mir das Blut in den Kopf, ohne dass ich es verhindern kann. Süß. Moritz lacht und die Sonne verwandelt seine Augen in tiefblaues Glas. Na und?Was und? Ich gebe zu, ich bin in diesem Moment mehr auf den Sprecher als auf das Gesprochene fixiert.Na, verrätst du mir jetzt deinen Namen?, er grinst wie Bradley Cooper. Oder soll ich bei Pippi Langstrumpf bleiben?Er lacht wieder, es klingt echt und irgendwie sympathisch. Sehr, sehr witzig! Ich mache wieder auf genervt, obwohl ich mich mittlerweile ganz wohl bei dem Geplänkel fühle.Sag, schon. Komm.Sophie.Na, also. Geht doch. Ich will etwas antworten, aber es fällt mir nichts ein. Nichts Witziges, nichts Kluges, überhaupt nichts. Totale Leere im Kopf, alle Energie fürs Herzklopfen. Pochpochpoch! Also zucke ich nur mit den Schultern und schaue auf den Boden. Da sind unzählige und hochinteressante Sandkörnchen, die ich noch nie gesehen habe. Für die brauche ich jetzt meine ganze Aufmerksamkeit.Und du so?, fragt er.Wie, so?Ja, was machst du so?Ich schiebe Rad. Siehst du ja, lache ich. Richtig, hätte ich jetzt gar nicht gemerkt. Plötzlich finde ich es schön, mit ihm herumzualbern. Tut richtig gut und lenkt mich ab. Moritz greift in die Gesäßtasche seiner Jeans.Möchtest du einen Kaugummi? Er hält mir einen Silberstreifen unter die Nase. Erst zögere ich, dann greife ich zu und stecke ihn in den Mund. Ich mache eine Kaugummiblase und lasse sie platzen. Dann ist es wieder still. Nur vom nahen Tennisplatz fliegt das monotone Plopplop der Bälle zu uns auf die Straße, man kann es bis zur Kreuzung hören. Da bleibe ich stehen und zeige nach links. Hier muss ich weg, sage ich. Ich komme noch ein Stück mit, wenns recht ist , sagt Moritz.Okay!, erwidere ich. Er kommt noch ein Stück mit? Mensch, das ist sogar okay im Quadrat, denke ich. Wir gehen nebeneinander. Ab und zu kommt ein Auto die schmale Straße entlang. Dann müssen wir hintereinander schieben. Doch schnell ist Moritz wieder neben mir und schaut mehr zu mir, als auf die Straße. Es kommt mir kurz wie ein Wimpernschlag vor, als wir auf das Kopfsteinpflaster in unsere Straße einbiegen. Die Häuser in unserer Gegend sind größtenteils Backsteinvillen mit weißen oder grauen Fenstern und Haustüren. Die meisten Gärten sind geschmackvoll mit Stauden und Sträuchern angelegt. Bei manchen führt eine gepflegte Buxhecke zur Eingangstür. Moritz begleitet mich schiebender Weise bis zu unserem Gartentor. Die Verletzung habe ich fast vergessen. Statt das Tor aufzumachen, bleibe ich stehen. Darauf hat Moritz scheinbar gewartet. Er lehnt sein Fahrrad an den Gartenzaun. Da huscht Rambo, der schielende, weiße Nachbarskater aus der Buchenhecke. Während Moritz Miez-Miez! ruft und der Katze hinterherschaut, lasse ich den Rucksack von meiner Schulter gleiten. Ich krame nach dem Toröffner, durchwühle den raschelnden Inhalt. Nichts. In der rechten Außentasche vielleicht? Nein. In der linken? Auch nicht. Irgendwie bin ich ein wenig durch den Wind. Nochmals ein Versuch im Inneren des Rucksacks. Da ist er doch. Moritz grinst. Oder ist es doch kein Grinsen? Egal. Ich warte, dass er etwas sagt. Stattdessen greift er in die Hosentasche. Er holt sein Handy heraus. Gibst du mir deine Nummer?, fragt er. Dabei mustert er mich für meinen Geschmack etwas zu lange.Iss was?Will dich auswendig lernen.Sehr witzig, sage ich und untersuche meine Haarspitzen, dann diktiere ich meine Nummer. Das Handy noch in der Hand, fragt er und sieht mich dabei erwartungsvoll an: Und jetzt?Jetzt?, frage ich zurück.Wir könnten noch auf ein Sprite gehen? Hast du Lust?Ich habe Lust, aber: Ähm, ich kann nicht, stottere ich.Warum?Obwohl ich meine Blessuren ganz vergessen habe, zeige ich auf Knie und Ellenbogen. Verletzung. Und außerdem: Ich muss noch was tun.Wofür?Wofür wohl? Für die Schule.Das stimmt und ist trotzdem gelogen. Ich müsste immer was tun für die Schule. Aber wenn ich ehrlich bin, ist mir die Schule seit einiger Zeit sowieso egal. Von mir aus könnte sie sich in Luft auflösen.Moritz lacht. Ich müsste auch. Übermorgen ein Referat.Ich druckse rum. Bin hin- und hergerissen. Die Richtung geht eindeutig zu Nichtlernen und Sprite trinken. Trotzdem sage ich: Nee, geht nicht. Leider. Moritz schaut über unseren Gartenzaun hinweg zum Nachbarhaus.Du, da lehnt eine Frau am Fenster und belauert uns, sagt er. Ich weiß, ohne hinzuschauen, wer das ist.Ach, die Peschke, die hat nichts anderes zu tun.Ach, so, lacht Moritz und wechselt das Thema. Was ist jetzt, doch Lust?Geht nicht, glaub mir.Na, gut, dann ein anderes Mal, versprochen? Ich zucke mit den Schultern, sage nichts. Stehe da.Na, denn also. Er streckt seine Hand aus, lächelt. Jetzt umarmt er mich, denke ich. Tut er nicht.Na, denn tschüss!, sagt es, schwingt sich mit einem Lächeln wie die Morgensonne auf sein blaugelbes Morrison Rad, winkt und fährt weg. Ohne alles. Nur tschüss und nix! Ich bleibe noch einen Moment stehen, den Türdrücker in der Hand und schaue ihm nach. Er und sein Fahrrad werden kleiner und kleiner. Dann biegt er ab und ist weg. Ich warte noch eine Weile auf etwas, das nicht kommt. Trotzdem. Während ich noch so dastehe, sehe ich wie einer unserer Nachbarn mit seiner kleinen Tochter kommt. Das Kind sagt etwas und der Vater nimmt es einfach auf den Arm und trägt es durch das Gartentor. Ich erinnere mich an das glückliche, unbefangene kleine Mädchen, das ich einmal war. Dann öffne ich das Garagentor, nehme mein Rad und schiebe es hinein.Ich setze mich noch ein wenig auf unsere Terrasse. Kein Mensch zu Hause. Gott sei Dank. Nur Lili, Fast-Mensch, Labrador-und-sonst-noch-was-Mix. Als sie mich entdeckt, setzt sie zu einem Freudengebell an, wuselt um meine Beine herum und wedelt begeistert mit dem Schwanz. Es ist schon sonderbar, denke ich, mit diesem Schwanzwedeln kann ein Hund mehr Gefühl ausdrücken als mancher Mensch. Dabei denke ich an meine Eltern. Ich streichle Lili und male die nicht stattgefundene Wunschverabschiedung von Moritz in allen Einzelheiten in ihr schwarzes Fell. Lili ist für mich wie ein kleines Kind. Genau wie ein Kind wird sie versorgt. Aber genau wie ein Kind muss sie auch gehorchen und ist von den Launen der Erwachsenen abhängig.Ich gehe in die Küche, hole mir einen Joghurt mit Honig aus dem Kühlschrank. Während ich ihn auslöffle, spiele ich auf meinem Handy herum. Lili sitzt erwartungsvoll neben mir: Sie verfolgt jeden Löffel, den ich in den Mund schiebe und wartet, bis sie die Reste im Becher endlich auslecken darf. Als ich später in den ersten Stock in mein Zimmer gehe, schläft sie bereits in ihrem Korb unter der Treppe. Ihr Lieblingsplatz. Hier hat man alles im Blick, die Haustüre, die Diele, auch das Wohnzimmer, wenn die Schiebetüre offen ist und ganz wichtig: Die Küche. Sie atmet tief. Zuckt mit den Pfoten, macht Kaubewegungen. Wahrscheinlich träumt sie von nie endenden Leckerlis.Ich schlafe zwar nicht, aber ich träume auch. Nicht von Leckerlis.Moritz..., ein cooler, gechillter Typ. Das Schönste an ihm sind seine Augen. Die sind so blau und so tief wie das Meer. Komisch, ein einziger Blick hat genügt, dass ich jetzt immer an ihn denken muss. Obwohl ich erst wortkarg und pampig war, hat er nicht locker gelassen. Komisch, je mehr er redete, umso mehr entspannte ich mich.Im Moment geht es mir gut. Und wenn es einem gut geht, versinken die Sorgen in ein tiefes, tiefes Loch und Deckel drauf. Pling! Ich habe mein Handy gerade auf den Schreibtisch gelegt um doch ein Pflaster auf den abgeschürften Ellbogen zu kleben, da kommt eine Nachricht. Von Moritz. Mein Herz klopft bis zum Hals. Ich streiche hastig über das Display und lese kurz rein. Gefühlte 100-mal.Hi, Sophie. Wann sehen wir uns wieder? Schlicht und unromantisch stehen die schönsten Worte auf dem blauen Display: Wann sehen wir uns wieder? Moritz will mich daten. Wie cool ist das denn? Wenn ich jetzt behaupten würde, die Whatsapp sei mir egal, wäre das so was von gelogen. Doch ich antworte nicht. Dafür halte ich das Handy eine gefühlte Ewigkeit fest umklammert, streichle mit den Fingern über die Wörter, die er mir geschickt hat. Küsse sie. Innerhalb der nächsten Stunde kommen noch zwei weitere Nachrichten.Wann? Und nochmals: Wann?Dann kommt Maike.Ich erkenne es am Klingeln. Dreimal. Ich humple runter und öffne ihr. Wir verschwinden auf mein Zimmer und machen es uns auf dem Sofa gemütlich, schlürfen Cola und essen Chips.Man meint immer, alle Leute aus der Königsberger Straße seien asozial. Bis man Maike kennengelernt hat. Manchmal nenne ich sie Mimmi, nach dem uralten Motto: Ohne Krimi geht die Mimmi nie ins Bett. Man muss wissen, Maike hat einen speziellen Hang zu Krimis, nein, eigentlich zu allen Büchern. Sie ist ein Lesefreak. Maike ist meine einzige Freundin und die beste dazu. Richtig streiten tun wir nie. Wir sticheln, gehen uns manchmal auf die Nerven, sind mal anderer Meinung. Aber welche beste Freundinnen sind nicht auch hin und wieder anderer Ansicht? Maike schreibt nur Topnoten, langweilig ist sie trotzdem nicht. Streberin schon gar nicht. Sie weiß nur alles. Maike ist durch und durch nett. Gut, sie mag es gerne mehr wissenschaftlich und liebt Fremdwörter.Damit kompensiert sie ihre soziale Herkunft, hat mein Vater festgestellt, nachdem er mit ihr ausnahmsweise einmal mehr Worte als nur ein Guten Tag! gewechselt hat.Im Umgang mit Jungs ist Maike sehr schüchtern. Wenn sie was sagt, ist das in meinen Augen überlegt und klug. Zu klug, manchmal. Damit stößt sie die Boys oft vor den Kopf. Natürlich auch deshalb, weil sie lernmäßig alles schneller checkt. Doch keiner der Kerle in unserer Klasse hat es je gewagt, sie blöd anzumachen oder zu mobben. Sie halten sich mit ihren Bemerkungen schlauerweise total zurück. Man kann ja Maike gut gebrauchen, bei Hausaufgaben oder bei Schulaufgaben. Da ist ihre Hilfe immer nützlich. Sie erklärt bereitwillig, lässt abschreiben, notiert bei Schulaufgaben schon mal ein paar Lösungen auf einen Zettel und schiebt sie weiter. So jemand Praktischer darf dann schon mal ein wenig dicker sein. Denn Maike hat eine lebensbejahende Figur, um nicht zu sagen, sie ist ziemlich kräftig gebaut. Sie sagt, dass in ihrer ganzen Familie schon immer alle rund waren und dass sie deshalb dagegen nichts machen könne. Genetisch bedingt, schlechte Verwerterin und Erbsubstanz, quasi vorprogrammiert, meint sie. Ehrlicherweise muss man aber sagen, dass Maike auch eine recht gute Esserin ist. Während ich mit Müh` und Not zum Beispiel meine Tüte Pommes in der Mittagspause gerade mal bis zur Hälfte gegessen habe, hat sie ihre schon leer geputzt. Dann greift sie gerne auch mal zu meiner Tüte und sagt:Du, ich helfe dir noch ein wenig, oder Sophie? Na, klar.Ich weiß nicht genau, ob Maike unter ihrer Figur oder ihrer Herkunft leidet. Neulich war da mal eine kleine Andeutung: Wenn ich einmal fertig bin mit dem Studium, verdiene ich so viel Geld, dass ich mir eine schicke Wohnung und einen Ernährungsberater leisten kann. Sie lachte und ihre kirschgroßen braunen Augen verschwanden hinter den kugelrunden Wangen. Bis es so weit ist, nehme ich an, tarnt sie sich weiter mit preiswerten, schwarzen Hosen und weiten, bunt bedruckten T-Shirts. Preiswert einkaufen brauche ich nicht. Bei uns spielt Geld keine große Rolle. Ich muss höllisch aufpassen, das in Maikes Gegenwart nicht zu vergessen. Für sie ist es nicht selbstverständlich, etwas zu kaufen und nicht auf den Preis zu schauen. Dass ihre Eltern wenig Geld haben, dafür kann sie genauso wenig wie ich, dass meine Eltern viel Geld haben. Trotzdem mache ich mir um ihre Zukunft keine Sorgen: sie ist nicht nur körperlich gut gepolstert, ihr Wille ist es auch. Ich war noch nie bei Maike zu Hause. Nie gibt sie eine Fete oder lädt mich einfach so zu sich ein. Als wäre es eine Schande, wenn ich sehen würde, wie einfach sie und ihre Eltern leben. Dass sie bescheiden lebt, dafür muss sie sich doch nicht schämen. Dass sie trotzdem so gut, so intelligent ist, das verstärkt nur meine Zuneigung zu ihr.Jetzt sitzen wir auf meinem weißen Sofa, quatschen über alles Mögliche und greifen nach den Chips, die auf dem Glastischchen davor stehen. Ich zeige ihr natürlich meine Blessuren und erzähle ihr die verkürzte Version meines Sturzes: Von der Alten und ihrem Hund. Von der Begegnung mit Moritz erzähle ich nicht. Noch nicht. Deshalb bin ich heute ausnahmsweise froh, als sie nach einer Stunde nach Hause muss. Danach liege ich noch lange da und denke über Moritz nach. Moritz..., sein Name zergeht auf meiner Zunge wie Vanilleeis. Moritz. Ich glaube, er hat so etwas Starkes und so etwas Weiches an sich. Das klingt jetzt irgendwie bescheuert. Aber es ist so. Es klingt auch bescheuert, dass mir bei dem Gedanken an ihn, innerlich warm wird. Aber das ist auch so. Und dann sind da noch die blauen Augen. Die hören nicht auf, mich anzulächeln, bis ich einschlafe.